Interview mit Rosemarie Schneider
Vorbemerkung: Der vorliegende Text stellt die gekürzte Fassung eines Interviews dar, das Janosch Korrell im April 2010 im Rahmen des Projektseminars „Die Geschichte des Bayerischen Staatskonservatoriums der Musik Würzburg 1933-1945“ mit Rosemarie Schneider geführt hat. Der persönliche Ton und Charme der Befragten musste leider der Lesbarkeit des Textes geopfert werden.
Frau Schneider, geb. am 1. Okt. 1928 mit dem Mädchennamen Baumgärtner, war die einzige ehemalige Studentin des Staatskonservatoriums, die sich nach einem Aufruf in der Mainpost im März 2010 gemeldet hatte.
RS: Ich hab‘ zufällig den kleinen Artikel in der Mainpost gelesen. Da hab‘ ich gedacht, das ist eigentlich ganz interessant. Denn es war um den 16. März herum und am 16. März 1945 ist das Konservatorium zerbombt worden. Da hab‘ ich mich gemeldet.
JK: Wann haben Sie mit dem Studium begonnen?
RS: 1943. Gesang war mein Hauptfach und Klavier das Nebenfach. Mein Gesangslehrer war Professor Heinrich König. Der Name meines Klavierlehrers fällt mir nicht mehr ein. Er hat vor allem Kontrabass unterrichtet, Klavierunterricht hat er auch gegeben [1]… Ich bin 1928 geboren, also begann ich mit 15 Jahren das Studium. Das kam daher, dass meine Mutter früher einmal auf dem Konservatorium gewesen war. Und dann kannte ich den Sohn einer ihrer Freundinnen, der dort Flöte studiert hat. Dadurch wusste ich, dass es dort einfach schön war. Nun war das Konservatorium an sich auch sehr bekannt. Vor allem durch den Geheimrat Zilcher, der das Mozartfest hier ins Leben gerufen hat. Beim Mozartfest hat er viele Konzerte gegeben. Die fanden immer im Kaisersaal statt, was märchenhaft schön war.
JK: Sie haben eine Aufnahmeprüfung gemacht?
RS: Ja, das musste man. Man hat ein klassisches Lied herausgesucht, vorgesungen und dann wurde einem gesagt, was man studieren kann. Ich glaube, bei mir war es ein Schubertlied. Das hatte ich mit meiner Mutter einstudiert. Musik hat mich damals einfach interessiert, also habe ich es so gemacht. Ich wollte gerne Koloratursopranistin werden. Aber daraus wurde nichts. Denn nach dem Bombenangriff wurden wir nach Lohr evakuiert. Und nach dem Krieg bin ich noch eine Zeit lang zum Unterricht in die Villa Völk in der Mergentheimer Straße gefahren. 1947 mussten wir älteren Studenten alle noch einmal etwas Kleines vorsingen, dann ging das Studium weiter. Aber nach einiger Zeit wurde es mir zu viel. Man musste ja alles wieder aufbauen… Wir hatten ja nichts mehr. Wir sind 1951 nach Würzburg zurück gezogen. Und da habe ich dann geheiratet, da war sowieso Schluss. Einen richtigen Studienabschluss habe ich also nicht gemacht.
JK: Gab es Nazis unter den Professoren?
RS: Professor Schindler war sehr naziorientiert. Bei ihm musste man beim Hereinkommen immer mit ‚Heil Hitler‘ grüßen. Und wenn wir das gemacht haben, hat er gesagt: „So grüßt man!“ Aber der war der einzige. Vom Geheimrat Zilcher hat man das später auch gesagt, aber der hat nie verlangt, dass wir das tun sollen. Es ging am Konservatorium vor allem um die künstlerische Ausbildung, nicht um Politik.
Wir Sängerinnen hatten Italienischunterricht, wir hatten Stimmbildung und dann gab es noch Solfège-Unterricht.
Es war ein sehr schönes Arbeiten da und auch der Zusammenhalt unter uns Studenten war sehr schön. Wir standen nicht unter so einem Zwang wie beim BDM, wo man Strümpfe für die Wehrmacht stopfen musste. Gut, wir mussten unseren Luftschutzdienst machen, genauso wie die Jungs, aber meistens waren gar keine mehr da… Im Konservatorium haben wir ganz freiwillig den Saal aufgeräumt! Wir haben uns gesagt, dass wir den Konzertsaal doch nicht dreckig werden lassen können. Es könnte ja sein, dass wieder ein Konzert darin stattfindet… Manchmal war dann Fliegeralarm. Da sind wir hinten am Bruderhof Richtung Keller hinaus über den Hof gegangen. Einmal waren Bomben in die Eichhornstraße gefallen, wo es auch die ersten Toten gab.[2] Und die hatten uns schon interessiert. Wir haben uns gefragt, ob man die hätte sehen können. Aber man hatte sie schon weggeräumt. Es war eine verrückte Zeit!
Später war fast ständig Alarm. Man musste ständig in den Keller. Immer fiel der Unterricht aus. Zum Schluss war es sogar so, dass man mehr im Keller war als woanders. Wir hatten wahnsinnig viel Alarm, auch tagsüber…. Ich erinnere mich noch, wie wir den Konzertsaal aufgeräumt haben. Zwischendrin gab es Alarm und da haben wir versucht, einen Teil der Instrumente in den Keller zu bringen. Ich war ja auch noch als Tanzelevin am Theater. Und da mussten wir sogar Nachtwache halten, also Feuerwache. Da ist man über Nacht im Theater geblieben. Das Theater stand damals an der Ecke, wo sich jetzt ein Reisebüro befindet, gegenüber dem neuen Theater. Es war ein wunderschönes altes Rokokotheater, richtig schön mit Plüsch und Pleureusen ausgestattet…
JK: Erinnern Sie sich an Herrn Zilcher?
RS: Geheimrat Zilcher war charmant, äußerst charmant! Er war auf uns Jugendliche immer sehr bedacht, so in seiner ganzen Art. Er hat uns Höflichkeit beigebracht, das Galante eines Mannes. Auch den jungen Männern hat er es beigebracht, nicht direkt, sondern immer durch seine Art. Einmal in Würzburg getroffen. Nach dem Krieg habe ich ihn noch einmal mit einem Rucksack auf dem Rücken auf dem Marktplatz getroffen. Da waren noch solche Trümmerhaufen! Und er guckt mich an und sagt: „Ach wie schön, dass Sie noch leben. Ich hab‘ gedacht, Ihnen wäre auch etwas passiert.“
JK: War er mehr eine Vaterfigur oder eher ein Kumpel?
RS: Ein sehr distanzierter Kumpel, während Professor Rau danach eher ein Muffel war. Das Verhältnis zu den Professoren war damals ein sehr geregeltes und sehr distanziertes Verhältnis. Wir sind auch immer beim Herrn Professor mit einem halben Knicks vorbeigegangen.
JK: Haben Sie noch andere Erinnerungen an die Nazizeit?
RS: Die Pogromnacht am 9. November. Wir hatten in unserer Nachbarschaft eine jüdische Familie, die in der Sonnenstraße ein Haus bewohnte. Da ist jetzt eine Studentenverbindung drin. Jedenfalls hatten sie ein kleines Mädchen. Und als die Parteileute da reingegangen sind und die aus dem Haus herausgezerrt haben, da hat das Mädchen furchtbar geweint. Da hat meine Mutter sie genommen und sie getröstet. Und dann kam eine Frau auf meine Mutter zu, riss das Kind weg und sagte: „Das dürfen Sie nicht tun!“ Man versteht die Zeit nicht… Gut, wir Jugendlichen sind in sie hineingewachsen. Aber ich verstehe nicht, wie die Erwachsenen sich von einem solchen … haben verführen lassen.
Für uns Jugendliche war die Zeit trotzdem schön. Man ist zum BDM-Dienst gegangen. Und dann sind wir in die Lazarette gegangen und haben dort Kampflieder gesungen. Die haben da natürlich eine Freude daran gehabt, ganz bestimmt. In Würzburg waren ja fast alle Schulen Lazarette.
JK: Haben Sie als Studentin Geld verdient?
RS: Ich war nur eineinhalb Jahre am Konservatorium! Wir haben manchmal einen Chor mitgesungen im Theater, wenn große Aufführungen waren wie z.B. beim Julius Cäsar. Oder wir waren bei Hänsel und Gretel als Tanzeleven beschäftigt. Für den Unterricht mussten wir bezahlen. Aber wenn man einen Auftritt hatte, dann hat man eine oder zwei Mark bekommen.
Aber Sie werden lachen, hier wurden bis kurz vor Kriegsende Filme gedreht. Und da haben wir vom Theater mitmachen dürfen. Wir mussten das sogar und wurden dafür natürlich auch geschminkt. Einmal waren wir auf dem Marktplatz; René Deltgen war da und auch Angelika Hauff und wir waren die Komparserie.[3] Da begegnete mir meine Lehrerin; das war auch so eine… Den Hitler-Gruß kannte sie gut! Sie ging an mir vorbei, guckte mich an und sagte: „Weißt du denn nicht, dass sich eine deutsche Frau nicht schminkt?“ Da habe ich erwidert: „Es tut mir leid, aber wir sind doch hier beim Film!“ „Ganz egal“, hat sie gesagt, „man trägt keinen Lippenstift!“ „Oh“, habe ich gedacht, „wenn du meinst…“
Natürlich hat man Hauskonzerte gemacht oder Freunde eingeladen, die dann Klavier gespielt haben; das war nicht kompliziert. In Lohr war ich natürlich im Gesangsverein und habe da alles Mögliche gemacht…
JK: Haben Sie noch Noten von damals?
RS: In der Truhe da sind noch alte Noten. Darunter auch ein Stück von Hanns Schindler, aus seinem Weihnachtsoratorium. Das habe ich damals in einer Kirche gesungen. Der hat zu mir in seinem Dialekt gesagt: „Des sag i da, wenn du einen falschen Ton singst, schmeiß ich dich da oben runter.“ Das waren Respektspersonen, es wurde schon gespurt! Die Noten haben wir aus den Trümmern herausgezogen…
Das Klavier, das meine Mutter 1916 bekommen hatte, konnten wir auch retten. Das kam so: Meine Mutter und ich wohnten in der Sanderau. Bei dem Bombenangriff hat eine Fliegerbombe die Vorderwände und die Rückwände abgerissen. Wir sind aus dem Haus herausgekommen und Richtung Randersacker gelaufen. Da waren tausende von Menschen unterwegs. Wir haben uns irgendwo an eine Mauer im Alandsgrund gelegt und dort die Nacht abgewartet. Drüben brannte noch Heidingsfeld. Dann sind wir wieder zurück gelaufen und wie wir wieder ins Haus kamen, konnte man in die einzelnen Wohnungen hineinsehen. Da stand das Klavier meiner Mutter noch an der Mittelwand. Und nachdem wir nach Lohr evakuiert worden waren, haben uns Bekannte gesagt: „Jetzt schaut mal, dass ihr das Klavier da rausholt.“ Wir sind dann nach Würzburg getrampt und haben zusammen mit Freunden das Klavier in seine Einzelteile zerlegt, haben die Seitenteile auf Balken vom ersten Stock herunterrutschen lassen und alles auf ein Auto geladen. Ein Freund von uns hat die Teile wieder zusammengebaut. Das Klavier stand dann erst hier in der Wohnung. Aber üben Sie mal in einer Wohnung in einem Wohnhaus! Heute steht es bei meinem Enkel in Wolfsburg. Als er noch klein war, war er ganz begeistert von der Idee und hat gesagt: „Bazi Oma, ich krieg‘ von dir das Klavier, wenn unser Haus steht.“ Da habe ich es ihm hinaufgeschickt. Und ich muss sagen, es hat ihm viel Spaß gemacht und er hat mir auch immer ein Ständchen am Telefon gespielt. Das war ganz süß. Er spielt auch heute noch darauf.
JK: Welche Rolle spielte die moderne Musik am Konservatorium?
RS: Eigentlich keine. Man beschäftigte sich mit den alten Komponisten wie Schumann, Schubert und mit den alten Opern. Als ich nach dem Krieg zum ersten Mal ein Stück von Stravinskij gehört habe, habe ich gedacht, es zerreißt mich…
JK: Wie war das damals so: Was gab es in Konzerten zu hören? Gab es Musik in Restaurants oder Gaststätten?
RS: Im Konservatorium fanden viele Konzerte statt; ich erinnere mich z.B. an ein Professorentrio.[4] Im Dritten Reich lief das in der Regie von Kraft durch Freude. Opernaufführungen gab es damals nur im Theater, das ziemlich bekannt war. Karl Schmidt-Walter hat hier gesungen und einige große Sängerinnen waren auch hier. Die hatten ein großes Orchester und ein großes Ballett. Wenn das Mozartfest war und die Nachtmusik im Hofgarten gespielt wurde, dann mussten die Tänzerinnen außen herumgehen. Mit ihren Allongeperücken und ihren Kostümen haben sie die ganze Nachtmusik mitgetanzt. Das sah entzückend aus, es passte so richtig zur Residenz. Einmal hat ein Schäfer einen Riesensprung gemacht, da ist ihm die Hose geplatzt. Das sind so Dinge, die passiert sind…
Dann gab es natürlich Varietés; manchmal bin ich mit meiner Großmutter in die Nachmittagsvorstellung gegangen. Und es gab viele Musikcafés, wo ein Stehgeiger spielte, Operettenmelodien zum Beispiel. Aber da durfte ich nicht so oft hineingehen, weil ich ja noch so jung war…
JK: Es gab eine Altersbeschränkung für Cafés?
RS: Abends wurde man nur mit den Eltern hineingelassen. Nachmittags ging es auch so. Es gab hier das Café Charlotte; das war da am Vierröhrenbrunnen, wo jetzt die Commerzbank ist. Im ersten Stock war das Café. Und da, wo sich jetzt Woolworth befindet, gab es das Tanzcafé Charlotte. Das war sehr frequentiert, auch von jüngeren Leuten und Soldaten.
JK: Welche Art Tanzmusik wurde da gespielt?
RS: Natürlich deutsche Tanzmusik, z.B. „Ich tanze mit dir in den Himmel hinein“, ein English Waltz. Dann Walzer von Johann Strauß und auch Foxtrotts. Dazu hat man getanzt.
JK: Und Jazz?
RS: Der Jazz kam mit den Amerikanern nach Würzburg. Wie wir das erste Mal „In the Mood“ gehört haben, da haben wir gedacht: „Gott, was ist denn das?“ Hinterher waren wir begeistert. Wir haben mit Begeisterung danach getanzt. Wir haben ja eigentlich nach dem Krieg erst einmal unsere Jugend nachgeholt. Zu feiern haben wir angefangen… 1951 noch nicht, denn da war Würzburg noch ein Trümmerhaufen. Es gab noch keine eigentlichen Tanzcafés. Das erste war dann in der Kaiserstraße: das Café Ludwig. 1956 habe ich geheiratet; so kurz vorher bin ich allein ausgegangen zum Tanzen.
Später, als die Beatles angefangen haben, da habe ich wieder gedacht: „Um Gottes Willen!“ – das war für uns fremd. Das war eine Umstellung! Mit Hair war es genauso. Wenn man König der Löwen anschaut, ist das eine völlig andere Musik, aber man kommt gut in sie hinein und mag sie auch.
JK: Wie war die Situation in der Villa Völk?
RS: Das war eine herrschaftliche Villa. Aber man war da oben schon sehr beengt.
JK: Kennen Sie noch Mitstudenten von damals?
RS: Meine Freundinnen Steffi Grübert und Eleonore Sommer sind alle schon verstorben. Von den männlichen Studenten kannte ich nur einen einzigen, es gab ja kaum junge Männer bei uns. Die waren alle beim Militär. Ich erinnere mich nur noch an zwei Trompeter, die haben wir einmal furchtbar geärgert. Als die ein Vorspiel hatten, haben wir uns in den Konzertsaal gesetzt und angefangen Orangen und Zitronen zu essen. Da ist denen die Spucke zusammengelaufen und sie konnten nicht mehr blasen.
JK: Geht das Klavierspielen eigentlich heute noch?
RS: Wenn ich oben bei meinem Sohn bin und die ganze Familie weg ist, dann setze ich mich ans Klavier und spiele mal wieder. Und dann knarz ich. Ich habe festgestellt, dass ich die Fehler, die ich früher gemacht habe, heute auch noch mache. Über eine bestimmte Note komme ich dann nicht hinweg. Richtig komisch ist das…
Fußnoten:
[1] Bei dem Gesuchten handelt es sich um Prof. Karl Bender. Dass die Studienprofessoren mehrere Instrumente lehrten, war damals die Regel.
[2] Am 21. Juli 1944 war ein erster Angriff erfolgt: 32 Tote, 77 Verwundete und 3 Verschüttete waren die Opfer. Bis zum 16. März 1945 erfolgten acht weitere Luftangriffe.
[3] Deltgen und Hauff standen zweimal zusammen vor der Kamera: Zirkus Renz (1943) und Wir beide liebten Katharina (1945, unvollendet).
[4] Gemeint ist das Zilcher-Trio mit Gustav Steinkamp (Klarinette), Franz Faßbender (Cello) und Hermann Zilcher (Klavier).