Günther Wich

über seine Tätigkeit als Professor für Dirigieren an der Hochschule für Musik Würzburg

Vorbemerkung: Es handelt sich um die gekürzte Fassung eines am 19. Juli 2016 geführten Interviews. Die Fragen stellte Christoph Henzel.

CH: Sie sind 1982 an die Hochschule berufen worden. Wie verlief Ihr musikalischer Werdegang bis dahin?

GW: Angefangen hat es mit der Blockflöte. Ich sollte Unterricht bei einem Flötisten des Saarbrücker Stadttheaters bekommen, der aber natürlich nicht Blockflöte, sondern lieber Querflöte unterrichten wollte. Er hat meine Mutter überzeugen können dem zuzustimmen und somit ist die Querflöte „mein“ Instrument geworden. Nach dem Abitur 1949 habe ich in Freiburg mit zwei Hauptfächern Musik studiert, nämlich Flöte bei Gustav Scheck und Dirigieren bei Konrad Lechner und Carl Ueter. [1] Das Flötenstudium habe ich etwas früher begonnen, das Dirigieren wurde dafür lebensprägend.

CH: Haben Sie nach der Abschlussprüfung in Freiburg die Flöte aufgegeben?

GW: Nein, ich habe da und dort mal eine Sonate gespielt, damit ein bisschen Geld in die Kasse kam und war gelegentlich als Aushilfe am dortigen Theater tätig, wo ich den damaligen GMD Heinz Dressel kennen lernte. [2] Auf meine Anfrage, ob er einen Assistenten gebrauchen könnte, bekam ich eine positive Antwort, sodass ich 1952 dort als Volontär ohne Bezahlung anfangen konnte. Heinz Dressel habe ich sehr viel zu verdanken, er hat mich fast väterlich geleitet. Ich war den ganzen Tag im Theater und war neben interessanteren Tätigkeiten auch beispielsweise für das Kaffeeholen und das Einrichten der Noten zuständig. Abends habe ich auf der Probebühne Klavier geübt. Dressel fand, dass ich nicht gut genug Klavier spielte, jedenfalls nicht so wie es in der Oper gebraucht wurde, und hat mich zur Operette „abgeordnet“, damit ich dort in der Praxis lerne.
Dort traf ich dann auf Siegfried Köhler, der mich unglaublich gefördert hat und dem ich gerade in den ersten Jahren sehr viel zu verdanken habe. Dazu zählen auch die ersten Dirigate, zuallererst Zellers Der Vogelhändler an einem Sonntag Nachmittag.
Eines Tages war unter den Korrepetitoren Not am Mann und Heinz Dressel sagte, ich solle da einspringen und morgen bei der Probe Tannhäuser spielen.
Nach der Abendvorstellung am Vortag habe ich mich dann, nach Absprache mit dem nächtlichen Feuerwehrdienst, auf der Probebühne einsperren lassen, um mich auf die unerwartete Probe vorzubereiten. Zum Glück hat alles gut geklappt.
Am Theater Freiburg war ich im Ganzen sieben Jahre und stieg dabei vom „Stift“ bis zum ersten Kapellmeister auf.

CH: Wann sind Sie von Freiburg weggegangen?

GW: Das war 1959. In den letzten beiden Jahren hatte ich in Freiburg bereits eine Vielzahl großer Werke dirigiert – Lohengrin, Rosenkavalier, Meistersinger sowie Salome, um nur einige zu nennen – und da war es ganz natürlich, dass sich die Agenturen für mich interessierten. Ich bekam also aus Stuttgart eine Anfrage, ob ich interessiert wäre dort erster Kapellmeister zu werden, was natürlich so war. Wir einigten uns auf den Rosenkavalier als Probedirigat am Neujahrsabend. Rosenkavalier hatte ich in Freiburg oft dirigiert. Das hat gut geklappt und Stuttgart war an mir interessiert.
Trotzdem fuhr ich am nächsten Tag nach Graz, denn von dort hatte ich eine Einladung erhalten mich für die freiwerdende erste Kapellmeisterstelle vorzustellen. Hier sollte ich Hänsel und Gretel und Madame Butterfly dirigieren.
Auch Graz sagte zu und als ich nicht gleich zugriff, gab man mir zu verstehen, dass man wisse, dass ich vor ein paar Tagen in Stuttgart dirigiert und einen positiven Bescheid erhalten hatte. Ich wurde dann direkt gefragt, wie ich mich entscheiden würde, wenn beide Opernhäuser ein Angebot machen würden. Ich antwortete, dass man verstehen müsse, dass Stuttgart nun mal eher Brennpunkt sei als Graz und dass ich mich somit für Stuttgart entscheiden müsste. Ich fügte aber hinzu, dass, falls ich in Graz „Chef“ werden könnte, die Sache anders aussehen würde. In Graz gab es damals nämlich keinen musikalischen Oberleiter.
Am nächsten Tag hat der Intendant André Diehl den Vertrag für die Position eines musikalischen Oberleiters auf den Tisch gelegt. Das war von ihm übrigens außerordentlich mutig, denn eigentlich kannten wir uns ja noch kaum. Deshalb setzte er auch in den Vertrag eine Kündigungsklausel für beide Parteien zum 1. Januar. Damit konnte auch ich einverstanden sein und habe unterschrieben.
Diese Klausel war von Graz als Sicherung gedacht, falls es mit mir nicht so gut gehen sollte wie erwartet. Es stellte sich aber heraus, dass ich derjenige sein würde, der die Klausel wahrnehmen würde und am 1. Januar für das übernächste Jahr kündigte.
Das kam so: Nach meiner Rückkehr von den beiden Vorstellungen fragte mich der Freiburger Intendant Reinhard Lehmann, der meinen ganzen Werdegang wesentlich gefördert hatte, ob ich nicht mit ihm nach Hannover wechseln wollte. Dort war der Posten des GMD frei und Lehmann wechselte selbst von Freiburg als Operndirektor dorthin. So kam es, dass ich 1961 ebenfalls nach Hannover wechselte, wo ich vier Jahre als GMD beschäftigt war.
Als es dort um die Vertragsverlängerung ging, kam telefonisch eine Anfrage aus Düsseldorf, ob ich mich für die freie Position des GMD bei der Deutschen Oper am Rhein interessieren würde. Dort bin ich von 1965 an siebzehn Jahre in dieser Position mit unzähligen Gastverträgen an großen Opernhäusern oder Konzertorchestern tätig gewesen.

CH: Als GMD an der Deutschen Oper am Rhein haben Sie auch Duisburg mitversorgt, oder?

GW: Ja, genau. Ich hatte die musikalische Leitung für zwei Häuser, zwei Orchester, einen grossen Chor, der beiden Häusern gerecht werden musste, und etwa 80 Sängerinnen und Sänger, wobei das Solistenensemble für beide Häuser konzipiert war. Aber alles hat seine Zeit. Irgendwann ist es eben Zeit zum Wechsel und zum Abschied.

CH: Welche Lieblingswerke oder Lieblingskomponisten hatten Sie?

GW: Fast ausschließlich Werke aus dem deutschen Fach. Im Konzert waren das vor allem Brahms, Bruckner, Beethoven und Mozart, aber auch Alte Musik auf historischen Instrumenten, zum Beispiel mit der Capella Coloniensis des WDR. In der Oper neben Mozart Wagner und Strauss, jedoch auch das moderne Repertoire – für die italienische Oper war in Düsseldorf meistens mein Kollege Alberto Erede zuständig. [3]

CH: Ich habe gelesen, dass Sie auch Die Soldaten von Zimmermann in Düsseldorf aufgeführt haben. Hatten Sie für moderne Werke etwas übrig?

GW: Das Interesse ist langsam gewachsen. In meiner Freiburger Zeit trat einmal André Gertler als Solist mit dem Violinkonzert von Alban Berg auf. [4] Heinz Dressel hatte ihn eingeladen und das Konzert auch dirigiert. Das war für mich ein Schlüsselerlebnis. Eines der ersten Werke, die ich in Graz aufführte, war demzufolge das Vionlinkonzert von Berg mit Gertler. In Hannover gab es später einen Dramaturgen, der an modernen Werken interessiert war. Da haben wir Lulu als eines der ersten Häuser Deutschlands gespielt, später auch die drei Einakter Schönbergs an einem Abend. [5]

CH: Die Soldaten waren aber doch eine ganz besondere Herausforderung.

GW: Ja, aber von der Mentalität her konnte ich sie aus dem Schönberg-Umkreis verstehen. In Düsseldorf hatten wir großen Erfolg mit Moses und Aron, sodass sowohl das Orchester als auch ich daran anknüpfen konnten. Was die Vorbereitung angeht, habe ich damals mit Michael Giehlen telefoniert und mich erkundigt, wie ich am besten mit der zur Verfügung stehenden Zeit zurechtkommen könnte. Er bestätigte mir, alles, was man zur Verfügung haben kann, muss man als Tropfen auf dem heißen Stein betrachten. Aber es hat doch geklappt und wir haben eine ganze Reihe von Gastspielen international damit absolvieren können.

CH: Wie ging es nach der Trennung von Düsseldorf 1982 weiter?

GW: Bertold Hummel ist ein Studienkollege von mir in Freiburg gewesen und hatte wohl gelesen, dass ich Düsseldorf verlassen würde. Er hat mich damals angerufen und gefragt, ob ich nicht Lust hätte nach Würzburg zu kommen, da dort die Stelle, die vorher Hanns Reinartz innehatte, ausgeschrieben worden war. Ich wusste allerdings nichts davon, weil meine Orientierung nicht in Richtung Hochschulen ging. Ich hatte keine Vorstellung davon, wie das so an Hochschulen damals war – abgesehen von einer Honorarprofessur an der Folkwangschule Essen für Dirigieren, die ich einige Zeit inne gehabt hatte, hatte ich keinen Kontakt zur Hochschulwelt. Jedenfalls verabredeten wir, dass ich mal zu Besuch kommen würde.
Das war dann im Februar, ein scheußlicher Tag mit Schneehaufen überall. Als ich die ersten Schritte in der Stadt vom Bahnhof zur Hochschule tat, konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen einmal hier zu leben. Der Eindruck und meine Stimmung haben sich aber schlagartig geändert, als ich die Hochschule betrat und die vielen jungen Menschen wahrgenommen habe. Hummel hat mir alles gezeigt, wir haben sehr gute Gespräche gehabt und das führte dazu, dass ich meine Bewerbungsunterlagen eingereicht habe.
Damals sah die Berufungsordnung eine Orchesterprobe, Probeunterricht mit den Dirigierstudenten sowie ein Gespräch mit der Berufungskommission vor. Ich erhielt eine Einladung nach einiger Zeit und sollte mit dem Orchester Beethovens 6. Symphonie und die Ouvertüre zum Freischütz erarbeiten. Gleich beim Einstimmen gab es Probleme mit den Bässen, das weiß ich noch heute. Wir konnten ja nicht die ganze Zeit mit Einstimmen verbringen! Ich solle das übergehen, befand die Kommission. Ich hatte fast ausschließlich Erfahrung mit A-Orchestern, zumindest in den letzten Jahren, wo man selbstverständlich vor der eigentlichen Probenarbeit schon eingestimmt hat. Was ich gewohnt war, war hier nicht der rechte Maßstab, hier war es eine Arbeit ganz aus der Werde-Perspektive. Ich musste mich umstellen und wurde belohnt, ich lernte die meisten Stücke, die ich so oft dirigiert hatte, aus der Sichtweise der „unroutinierten“ Studenten neu kennen.

CH: Bestand das Orchester nicht aus Studierenden, die alle eine Stelle in einem Profiorchester anstrebten?

GW: Die waren leider in der Minderzahl. Die Hochschule war damals ja eigentlich noch keine Hochschule im heutigen Sinn, so sehe ich das jedenfalls. Die Gepflogenheiten und das Denken stammten noch aus der Zeit des Konservatoriums. Außerdem gab es in Würzburg kein großes Theater, an dem man sich hätte orientieren können, und auch kein großes Konzertorchester. Das Leben an der Hochschule war eher idyllisch, in sich ruhend und, was die Zukunft der Studenten betrifft, oftmals auch ein bisschen illusionär. Die Studierenden waren zum Großteil Pianisten, viele damals auch aus Korea, dann Streicher, darunter aber wenige, die wirklich am Orchester interessiert waren. Hinzu kommt, dass es damals in Mode kam, dass die Studierenden eine Vorstellung von ihrer Zukunft hatten, in der sie „freie“ Musiker werden würden. Wenn man nachgefragt hat, was das denn sei, bekam man als Antwort, sie würden unterrichten, irgendwo mitspielen, aber vor allem keine festen Verpflichtungen haben. Und das merkte man natürlich an der Atmosphäre bei der Orchesterarbeit. Bei den Bläsern war übrigens mehr Engagement als bei den Streichern. Das lag zum Teil auch daran, dass die Lehrer meist heilfroh waren, dass sie ihre eigenen Orchesterjahre hinter sich hatten, obwohl ich nicht klagen konnte über fehlende Unterstützung. Gelegentlich musste aber deshalb auch Autorität meinerseits angewendet werden.

CH: Hat sich das gelohnt?

GW: Ja natürlich, es sind große Projekte möglich gewesen, wie zum Beispiel Von deutscher Seele auf Anregung der Pfitznergesellschaft. Wir haben das Werk dann auch beim Festakt in Bad Godesberg gespielt. Gelegentlich kamen auch von Studenten Anregungen, wie beispielsweise: „Können wir nicht das ‚War Requiem‘ von Britten aufführen?“ Oder es kam eine Gruppe und fragte, ob ich nicht mit ihnen Die Geschichte vom Soldaten einstudieren könnte. Das war dann für mich sehr erfreulich.
Veränderungen eher schleichender Art geschahen in der Verwaltungsstruktur. In der ersten Zeit nach meinem Stellenantritt wurde vieles noch improvisiert – wo ein starker Impuls war, da gelang auch etwas. Mit der Zeit wurde aber immer sichtbarer von Improvisation auf Institution und Vorschriften umgestellt. Als ich kam, empfand ich unser Haus als Kunsthochschule: praxisbezogen. Bei meinem Ausscheiden aus der Hochschule war alles mehr pädagogikbezogen. Immer mehr kam der Gesichtspunkt des in Zukunft abzulegenden Examens in den Blickpunkt. Ich kann das als Notwendigkeit verstehen, solange man sich im pädagogischen Bereich befindet, der künstlerische Gesichtspunkt läuft aber Gefahr, durch Regelwerk eingeengt zu werden.
Selbstverständlich muss es Examina geben und auch Zensuren. Vor allem aber müssten sich die Studierenden darüber klar sein, dass die Zensuren keine objektiven oder allgemein gültigen Werte darstellen. Am meisten sind sie das noch bei den Studiengängen Schulmusik und Kirchenmusik, weil die Stellensuche ja einmal in gleichartigen Instituten sein wird wie die Hochschule selbst es ist. Alle aber, die sich auf dem „freien“ Musikermarkt bewegen müssen, werden feststellen, dass sich niemand für Zeugnisse interessiert. Ich habe als GMD über Jahrzehnte an Vorsingen oder Probespielen teilgenommen. Da gilt nur „hic Rhodus, hic salta“. An den Zeugnissen interessiert höchstens der Name des Lehrers. Ein Bewerber, der sagen kann, dass er Penzel-Schüler ist oder dass Baumann sein Lehrer war, der kann schon davon ausgehen, dass er Chancen hat eine Einladung zu bekommen.
Ich meine, dass durch die ausgefeilten und festlegenden Studiengänge und Prüfungsgrundlagen in den angesprochenen Fächern die Ausbildung zu sehr gleichförmig und oft auch eingeengt wird. Jeder von uns weiß doch, wie verschieden Entwicklungen verlaufen, wie individuell jeder einzelne Student gesehen werden muss, wenn man ihn auf seinem Weg fördern will. Je freier das Verhältnis sein kann, das Student und Lehrer verbindet, desto besser ist es. (Vielleicht erscheint es für eine begrenzte Zeit wünschenswert, das eine oder andere Fach zu intensivieren. Dann findet beispielsweise Dirigieren oder Gehörbildung eben zweimal in der Woche statt.)
Um noch mal von der Praxis zu reden. Es fällt doch auf, dass innerhalb Deutschlands die meisten offenen Stellen nicht mit deutschen Bewerbern besetzt werden. Das heißt mit Sicherheit nicht, dass wir keine Talente mehr hätten, sondern es legt den Verdacht nahe, dass die Ausbildungsziele nicht dem entsprechen, was gesucht, wird. Fragen Sie einmal, wie viele Sänger an den deutschen Bühnen, wie viele Instrumentalisten in den großen Orchestern an deutschen Hochschulen ausgebildet wurden. Wie viele Bachelor-Absolventen treffen Sie da an?

CH: Haben Sie während Ihrer Zeit an der Hochschule noch dirigiert?

GW: Ja, in Stuttgart habe ich zum Beispiel Parsifal dirigiert, und sogar in Japan war ich noch von hier aus. Insgesamt wurde mir das aber zu viel, weil ich mich wirklich mit Würzburg und meiner Aufgabe hier identifiziert hatte. Es gab ja auch die Residenzpflicht, die ich für sehr sinnvoll halte und an die ich mich in all meinen Positionen, oft zum eigenen Nachteil, auch gehalten habe. Ich war immer für die Studenten, die das wollten, erreichbar, auch bei Dingen, die nicht unmittelbar mit dem Studium zu tun hatten.

CH: Können Sie etwas von damaligen Produktionen der Hochschule erzählen?

GW: Einmal wollte ich, dass die Studenten Fidelio kennen lernten und habe mich mit den Gesangsklassen in Verbindung gesetzt. Meine Dirigierstudenten haben dabei korrepetiert, das Orchester hat aus eingerichtetem Material geübt und die verbindenden Texte wurden von einzelnen Studenten gesprochen. Zum Abschluss dieser Periode haben wir irgendwann für uns intern gewissermaßen Fidelio „aufgeführt“. Naja, das war ein Versuch.

CH: Hat es eine Verbindung zwischen Hochschule und Theater gegeben?

GW: Einige Studenten haben hier ihre erste Stelle bekommen. Aber engere Verbindung hatten wir zu den Hofer Symphonikern und den Nürnberger Symphonikern. Dorthin fuhr ich regelmäßig mit den Dirigierstudenten. Die Orchester haben uns zwei Probentermine zur Verfügung gestellt und die Studenten wurden ins kalte Wasser geworfen. Meist waren die Orchestermitglieder sehr hilfreich, es gab gute Ratschläge und fördernde Äußerungen. Man kann Dirigieren ja nicht vor dem Hochschulorchester lernen und auch der Dirigierunterricht ist eigentlich wie Schwimmen lernen im Trockenen, bis der Augenblick kommt, wo Wasser im Becken ist und man untergehen kann.

CH: Wie viele Studenten hatten Sie in Ihrer Klasse?

GW: Meistens zehn oder zwölf.

CH: Wenn Sie Ihre eigene Ausbildung mit dem vergleichen, was Sie später erlebt haben als Lehrer, würden Sie dann den Weg von der „Pike“ auf vorziehen?

GW: Also, von der „Pike“ auf zu lernen heißt natürlich nicht, gewissermaßen nach der Konfirmation mal eben versuchen, ob man einen Platz am Theater bekommt im Sinn von „zur Lehre gehen“. Zuerst ist das Studium zu meistern. Möglichst vielfältig, aber nicht zu lang. Nach dem Erlernen der Grundlagen muss möglichst früh das dazukommen, was man nur in der Praxis erfahren kann. Dafür bieten alle Hochschulen zu wenige Möglichkeiten. Das braucht Zeit und auch die geeignete Umgebung.

CH: Haben Sie über die Jahre eine Veränderung in der Qualität oder besser gesagt in den Ansprüchen beobachten können?

GW: Das kann ich nicht sagen, weil ich nicht weiß, wie meine Nachfolger unterrichtet haben und was dort anders war. Bei mir im Unterricht wurde zum Beispiel nur selten Klavier gespielt. – Klavierauszugspielen hat der Kollege Falk in engem Kontakt mit mir unterrichtet. Meine Studenten sollten aus ihrer eigenen starken Vorstellung heraus erkennbar machen, zunächst für den Lehrer, wie „die Musik geht“. Sobald ein Klavierspieler mit eventuell eigenen technischen Problemen dazwischen ist, passiert es immer wieder, dass der Dirigent nicht die eigenen Impulse auszudrücken lernt, sondern sich unbewusst an den Klavierspieler hängt. Das aber soll vermieden werden.

CH: War das schon immer so in Ihrer Ausbildung?

GW: Ja, das habe ich von Anfang an so gemacht. Es mussten auch alle mit der Zauberflöte beginnen. Großen Raum nahm immer das berühmte Rezitativ ein, wo wir jeden einzelnen Akkord mit dem Text in Beziehung brachten und so bestimmten, wie er zu klingen habe. Ich habe dabei immer auf Gustav Gründgens hingewiesen, der seine Schauspieler immer fragte: „Wo kommst Du her? Was willst Du? Wo gehst Du hin?“

CH: Verstehe ich es richtig, dass Sie Ihr Konzept selbst entwickelt haben, wie Sie mit den Studenten arbeiteten?

GW: Ja und ich wurde bestätigt durch die Entwicklung, die die Studenten machten. Nahezu alle haben eine Stelle bekommen, die meisten eine Dirigierposition am Theater. Soviel ich weiß, hat keiner umgesattelt.

CH: Gab es auch mal eine Studentin?

GW: Ja eine, die hat sogar eine gute, verantwortliche Stelle an einem Theater bekommen. Gelegentlich kamen auch mal Studenten und Studentinnen aus dem Orchester, die am Unterricht passiv teilnehmen wollten, um das näher kennen zu lernen. Ich habe meistens Gruppenunterricht gegeben. Das war meist sehr lebendig und immer praxisbezogen.

CH: Wann haben Sie Ihre Tätigkeit an der Hochschule beendet?

GW: Das war 1993. Ich war aber noch ein oder zwei Jahre da, denn es hat sich so schnell kein Nachfolger gefunden. Da habe ich angeboten meine Studenten noch bis zum Abschluss zu führen. Nur die Orchesterarbeit wollte ich nicht mehr verantworten.
Abschließend möchte ich sagen, dass vieles in Würzburg sehr schön und bereichernd war, vor allem dann, wenn es spontan oder aus einem starken Impuls kam. Vor allem in den ersten Jahren war das so für mich. Später ist es mir leider etwas enger geworden. Das Ende kam zum richtigen Zeitpunkt.

Redaktion: Marc Deml und Christoph Henzel

Fußnoten:

[1] Gustav Scheck (1901-1984) hatte sich durch den 1930 gegründeten „Kammermusikkreis Scheck-Wenzinger“ einen Namen als Experte für Barockmusik gemacht. Er war von 1946 bis 1966 Rektor der Musikhochschule Freiburg. Konrad Lechner (1911-1989) war hier von 1948 bis 1953 Professor in den Fächern Orchesterdirigieren, Chorleitung, Kontrapunkt und Gambe. Carl Ueter (1900-1985) war von 1950 bis 1965 Professor für Dirigieren an der HfM in Freiburg.

[2] Heinz Dressel (1902-1997) war von 1951-1956 GMD in Freiburg i. B.

[3] Alberto Erede (1909-2001) war von 1956 bis 1962 GMD an der Deutschen Oper am Rhein gewesen und blieb dem Haus danach als ständiger Gastdirigent verbunden.

[4] André Gertler (1907-1998) setzte sich sehr für Neue Musik ein. So hatte er ab 1938 mit Bela Bartók zusammen dessen Werke für Violine aufgenommen. Gertler hatte ab 1947 eine Professur am Königlichen Konservatorium in Brüssel inne, ab 1954 zusätzlich an der Kölner Musikhochschule. 1964 nahm er einen Ruf an die Hochschule für Musik und Theater Hannover an.

[5] Erwartung op. 17, Die glückliche Hand op. 18 und Von heute auf morgen op. 32.