Interview mit Johannes Kamprad

Johannes Kamprad, gelernter Kaufmann, wurde im 2. Weltkrieg zur Kriegsmarine eingezogen und gelangte 1945 in amerikanische und englische Kriegsgefangenschaft. Nach der Rückkehr nach Deutschland absolvierte er am Staatskonservatorium Würzburg von 1947-1950 die Ausbildung zum Privatmusiklehrer im Fach Klavier. Seit den 1950er Jahren als Klavierlehrer tätig, erhielt er unter anderem 1968 einen Lehrauftrag am Konservatorium für das Pflichtfach Klavier. Heute lebt er in Höchberg bei Würzburg.

Vorbemerkung: Der vorliegende Text stellt die gekürzte Fassung eines Gesprächs dar, das Daniel Mattausch am 5. März 2011 mit ihm geführt hat.

DM: Wann und bei wem haben Sie am Staatskonservatorium studiert?

JK: Ich studierte von 1947 bis 1950 Hauptfach Klavier bei Prof. Karl Leonhardt, Musikgeschichte bei Dr. Roland Häfner, Harmonielehre bei Prof. Franz Xaver Lehner, Chorleitung bei Dr. Eduard Eichler; teilweise wurde dieser Unterricht auch vom Direktor der Oper übernommen. Unser damaliger Direktor war Prof. Franz Rau. Ich machte damals meine Ausbildung zum Privatmusiklehrer und gehörte 1950 zur ersten Generation von Studenten, die in der Nachkriegszeit einen Abschluss am Konservatorium machten.

DM: Wo war das Konservatorium in der Nachkriegszeit untergebracht?

JK: Das Würzburger Konservatorium war damals völlig ausgebombt und zerstört. Somit wurde die ganze Belegschaft provisorisch in der Bad Mergentheimer Straße in der sog. Villa Völk untergebracht, wo heute das Sportzentrum der Universität Würzburg steht.

DM: Wo haben Konzerte und Klassenabende stattgefunden?

JK: Klassenabende fanden in dem Gebäude der Villa Völk statt, in einem Raum, der nicht größer war als mein Wohnzimmer. Das Publikum setzte sich also dementsprechend meist nur aus den mitwirkenden Studenten zusammen. Konzerte gab es so gut wie gar nicht. Im Amerikahaus wurden kleinere Veranstaltungen, wie zum Beispiel Vorträge oder vielleicht einmal ein Violinabend, abgehalten. Das Problem, das ja auch bedacht werden muss: Heutzutage sind in einem mit dem Staatskonservatorium vergleichbaren Institut zwei oder drei Spitzenflügel vorhanden. Wir hatten damals teilweise Privatinstrumente, die alle auch von den äußeren Umständen in Mitleidenschaft gezogen wurden. In der Sanderstraße, am Ort des heutigen Röntgen-Gymnasiums, befand sich die Oberrealschule. Da hatte das Konservatorium zwei Räume angemietet, in denen Unterricht stattfand. Die Fenster waren noch nicht verglast, nur notdürftig mit Pappe abgeklebt. Im Winter haben die Studenten dann Heizmaterial mitgebracht und der Professor hat den Ofen angeschürt. In diesem Raum befand sich dann ein Klavier und unter diesen Umständen wurde unterrichtet. Da war der Umzug in die Villa Völk schon ein beachtlicher Fortschritt.

DM: Wurden Aufführungen und Veranstaltungen des Konservatoriums überhaupt von der Öffentlichkeit wahrgenommen?

JK: Nun ja, wie bereits erwähnt, war in der Villa Völk aufgrund der räumlichen Beschränkungen nichts Größeres möglich, es gab quasi kein externes Publikum. Ich kann mich erinnern, dass wir 14 Tage vor meinem Examen einen Abend mit zeitgenössischer Musik im Gartensaal der Residenz hatten. Da gab es dann auch schon mal ein Publikum von vielleicht 200 Leuten. Aber das war eine Ausnahme. Die Akustik war aufgrund der totalen Überhallung schlecht für Klaviervorträge. Ich habe an dem Abend eine Sonate in d-Moll von Karl Höller gespielt. Karl Höller war damals Präsident der Musikhochschule München, stammte aus Bamberg aus einem Organistengeschlecht. Insgesamt war die Öffentlichkeitswirksamkeit aber eher gering.

DM: Können Sie ungefähr den Kompositionsstil Karl Höllers beschreiben?

JK: Höller komponierte noch tonal. Da gibt es drei kleine Sonaten. Die erste in d-Moll, die ich gespielt habe, dann eine weitere sehr schöne Sonate in G-Dur. An die dritte erinnere ich mich jetzt nicht.

DM: Beschreiben Sie ihre ersten Berührungspunkte mit der klassischen Moderne!

JK: Nun ja, wie schon erwähnt Karl Höller, dann Werner Egk, Bela Bartók. Natürlich auch Paul Hindemith und später dann Aram Katschaturian. Über Schönberg und die Zwölftonmusik wurde zwar geredet, aber gespielt wurde sie meines Wissens nicht. Andere Komponisten der Moderne gab es auch sozusagen „fast noch nicht“. Sie mussten erst wiederentdeckt werden. Heutzutage ist ja alles verfügbar, alles spuckt der Kopierer oder der Computer aus. Damals befand sich alles noch im Aufbau. Alles musste mühsam mit der Schreibmaschine geschrieben werden.

DM: Wie stand es um die französischen Impressionisten?

JK: Ich erinnere mich, einmal die Suite bergamasque von Debussy gespielt zu haben. Ravel, dessen Bolero zum Beispiel auch was ganz Neues für uns damals war, war für mich aufgrund der hohen technischen Anforderungen nicht möglich. Ich hatte damals auch Glück, die Aufnahmeprüfung zu bestehen nach dem Krieg. Leonhardt hatte Verständnis für die damaligen Umstände und hat ein Auge zugedrückt. So bekam ich ein Probesemester, das ich dann allerdings auch erfolgreich bestanden hatte.

DM: Gelegentlich wurden bei den sogenannten „Zeitgenössischen Abenden“ auch noch Komponisten wie Max Reger oder Richard Strauss aufgeführt. Galten diese in Ihrer Studienzeit noch als zeitgenössisch?

JK: Das würde ich verneinen. Zeitgenössisch waren Hindemith, Höller und Fortner, auch Schoeck. Wobei die drei letztgenannten alle noch tonal komponierten. Das Freitonale war erst allmählich im Kommen.

DM: Wie standen Ihre Kollegen aus der Klavierklasse zur Neuen Musik?

JK: Nun ja, es gab da einen ironischen Spruch. Das war natürlich ein Spaß, aber er hatte ein kleines Körnchen Wahrheit in sich: Hindemith – Her damit, weg damit. Er wurde aber schon gespielt.

DM: Sie erwähnten, dass Sie Unterricht im Tonsatz bei Franz Xaver Lehner besuchten. Lehner war ja auch Kompositionsprofessor und komponierte. Können Sie vielleicht zu seinem Schaffen etwas sagen?

JK: Von ihm gibt es die Oper Die schlaue Susanne und die war durchaus noch im sozusagen „musikverständlichen“ Stil, also ohne Experimente. Die Oper als neuromantisch zu bezeichnen ist vielleicht nicht richtig gesagt, es gab eine Strömung, die sog. Neue Sachlichkeit, aber dies trifft es auch nicht. Kurzum: Lehner war ein Vollblutmusiker. Die Handlung war entsprechend und entsprechend war auch die Musik.

Dr. Roland Häfner hat übrigens auch komponiert. Die Sopranistin Irene Österling hat einmal einen Liederabend gegeben, an dem eine Komposition von Häfner aufgeführt wurde, in der er mit fernöstlichen Harmonien experimentierte. In einem traditionellen Klavierlied laufen ja Klavierpart und Gesangsstimme meist parallel und der Sänger hat viele Anhaltspunkte im Klavier. Das war hier erstmals eine Komposition, wo unten im Klavier der Orgelpunkt „d“ lag und oben die Singstimme frei mit dem „cis“ einsetzte. Es war damals ein wirklich beeindruckendes Ereignis und klang auch tatsächlich fernöstlich. Frau Österling hat den Gesangspart auch exzellent gemeistert.

DM: Walter Lessing studierte damals in der Kompositionsklasse Lehners. Eine seiner Violinsonaten wurde 1952 im „Studio für Neue Musik“ in Nürnberg aufgeführt. Gab es eine Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Musikinstituten in Bayern?

JK: Das würde ich verneinen. Lediglich zu Abschlussprüfungen, wir waren ja nur ein Konservatorium, kam ein Abgeordneter der Münchner Musikhochschule.

DM: Wie stand die Konservatoriumsleitung zur Neuen Musik?

JK: Die Konservatoriumsleitung war meines Wissens offen. Da hatte sich niemand gegen diesbezügliche Interessen gestellt.

DM: Hermann Zilcher und Armin Knab haben eine hohe Reputation genossen und wurden häufig gespielt. Können Sie sich zu diesen Komponisten äußern?

JK: Zilcher war ein äußerst universell begabter Mann. Er hat gemalt, gedichtet, und sogar, was viele nicht wissen, gezaubert. In den ganzen heute stattfindenden Aufarbeitungsprozessen zum Thema des Nationalsozialismus wird vieles einfach über einen Kamm geschoren. Ich kannte Zilcher selbst nicht mehr, aber ich glaube nicht, dass er ein ausgemachter Nationalsozialist war. Ich möchte jetzt auch nichts verharmlosen, aber Sie müssen sich das so vorstellen: Nach der Machtergreifung wurde das Konservatorium im Zuge der Gleichschaltung auch mit vereinnahmt. Das ließ man sich damals gefallen, man hing ja auch an seinem Beruf und niemand erahnte zu Beginn der 30er Jahre, zu welch schrecklichen Ereignissen es kommen würde.

DM: Gab es eine Kooperation zwischen dem Stadttheater und dem Konservatorium?

JK: Kaum. Auch das Theater war noch in den Anfängen und von der allgemeinen Raumnot betroffen. Die Lehrerbildungsanstalt am Wittelsbacher Platz stellte dem Theater einen Raum zur Verfügung, der um die dreihundert Leute fasste. Hier gab es dann auch schon mal ein Konzert. Der berühmte Schauspieler Gustav Gründgens übrigens gab hier zwei Vorstellungen zur Unterstützung des Theaters. Es krankte aber alles noch an den Möglichkeiten.

DM: Wurde Neue Musik am Theater gespielt?

JK: Nein. Meines Wissens nicht. Der Opernbetrieb wurde sowieso erst wieder mit dem Bau des neuen Theaters in den 1960er Jahren aufgenommen.

DM: Um 1950, es dürfte möglicherweise nach Beendigung Ihrer Studienzeit gewesen sein, hat sich der „Arbeitskreis für Neue Musik“ in Würzburg unter der Mitwirkung des Konservatoriums gegründet. Können Sie sich zu dieser Einrichtung äußern?

JK: Nein. Das ist mir jetzt nicht bekannt. Möglicherweise haben damals Lehner und Häfner mitgewirkt. 1958 kam dann Bertold Hummel, er war der erste, der damals ein „Studio für Neue Musik“ eingerichtet hat.

DM: Pflegten Sie nach dem Ende ihres Studiums 1950 überhaupt noch Kontakt zum Konservatorium?

JK: Ja, durchaus. Die Meisterkonzerte habe ich mir angeschaut und teilweise weiterhin Privatstunden bei Leonhardt genommen. Aber natürlich war auch dies alles zeitlich begrenzt. Ich war damals jung verheiratet und musste nach Beendigung meiner Studien auch ans Geldverdienen denken. In dieser Zeit spielte ich fast jeden Abend in amerikanischen Offiziersclubs Unterhaltungsmusik. Nachdem ich drei Jahre in amerikanischer Kriegsgefangenschaft war, wurde ich noch für ein Jahr nach England gebracht, wo ich im Salonorchester Klavier spielte. Dort kam ich dann mit einer ganz neuen, mir noch fremden Art von Musik in Berührung und lernte auch viel dazu. In Würzburg hatten wir dann in den 1950er Jahren eine Combo, bestehend aus Kontrabass, Schlagzeug, Saxophon und Gitarre. Für größere Veranstaltungen, wie beispielsweise ein Silvesterkonzert, konnten auch noch mehr Musiker hinzutreten. Die meisten Kollegen waren keine Berufsmusiker, sondern Studenten aus ganz anderen Fachbereichen, wie beispielsweise der Zahnmedizin.

DM: Somit spielte also die Jazzmusik schon eine wichtige Rolle in Würzburg!

JK: Ja, durchaus. Vor allem der kommerzielle Unterhaltungsjazz wurde viel an Tanzabenden gespielt. Freejazz und den experimentellen Jazz gab es noch nicht. Man muss das sich so vorstellen: Ein Tanz hat eine bestimmte Dauer von drei bis dreieinhalb Minuten. Wenn der Schlager einmal gespielt wurde, war erst eine Minute vergangen. Also wurde dann im zweiten und dritten Durchgang von den einzelnen Musikern improvisiert. Natürlich alles noch sehr brav und nicht vergleichbar mit dem Niveau mancher heutiger Jazz-Pianisten, die ich sehr bewundere. Gesang gab es keinen, da Möglichkeiten der elektrischen Verstärkung noch nicht vorhanden waren.

DM: Haben Sie als Klavierlehrer auch gelegentlich Neue Musik unterrichtet?

JK: Einmal habe ich eine Schülerin auf den Landeswettbewerb „Jugend musiziert“ vorbereitet. Sie spielte die 6 Klavierstücke op. 19 von Arnold Schönberg, auch auswendig, soweit ich mich erinnerte.

Im Anschluss an das Interview gab Johannes Kamprad an seinem Flügel noch eine kurze Kostprobe seines Könnens zum Besten: Er improvisierte über den Standard Tea for two.