Gespräch mit Martin Göß
über seine Studienzeit am Staatskonservatorium
Vorbemerkung: Es handelt sich um die gekürzte Fassung eines am 16. Juli 2014 geführten Gesprächs. Die Fragen stellte Christoph Henzel.
Martin Göß wurde 1936 in Gallmersgarten bei Rothenburg ob der Tauber geboren. Nach vielen Jahren in verschiedenen Orchestern wurde er 1979 Nachfolger von Prof. Walter Daum an der Hochschule für Musik Würzburg. 2001 ging er in den Ruhestand. Er war der Hochschule noch lange durch einen Lehrauftrag für Ensemblespiel verbunden. Er starb am 24.11.2018.
CH: Bitte erzählen Sie, wie Sie zur Musik gekommen sind.
MG: Das war ganz einfach. Mein Vater, ein Kleinbauer, war ein Dorfmusikant, wie auch schon mein Großvater, der in der Kapelle von Georg Hartner aus Burgbernheim gespielt und von 1907 bis 1911 bei einigen Schallplattenaufnahmen mitgewirkt hatte. Mein Vater selbst hatte keine richtige musikalische Ausbildung. Er hat in einer privaten Musikschule in der Stadtkapelle in Feuchtwangen seine musikalischen Grundkenntnisse erlernt und konnte als Amateur Violine, Bratsche, Kontrabass, Klarinette, Trompete, Akkordeon und Klavier spielen. Er war ein richtiges Musikgenie mit absolutem Gehör. Er hat mir die ersten Noten beigebracht und mit mir zu musizieren versucht, als ich ein Kind war.
Meine Mutter hatte keine musikalische Vorbildung, war aber beim Singen im Familienkreis immer sehr textsicher. Sie wusste vom Volkslied bis zum Choral alle Texte auswendig, spielte aber kein Instrument.
Mit 9 Jahren bekam ich privaten Klavierunterricht, denn wir hatten auch eines zu Hause, das ich noch heute besitze. Dann habe ich eine Lehre in der Stadtpfeife in Rothenburg o.d. Tauber bei dem Städtischen Musikdirektor Georg Streckfuß, der die Stadtkapelle leitete, gemacht. Da nebenher noch die Schule lief, bin ich mit dem Zug immer nach Rothenburg zum Unterricht zu ihm gefahren. Bei ihm kamen wir Lehrlinge an alle Instrumente heran. Als Hauptinstrument hat sich bei mir dann die Posaune herauskristallisiert. Trotzdem: Wenn die Tuba gefehlt hat, musste ich Tuba spielen, wenn keiner am Schlagzeug saß, musste ich das Schlagzeug übernehmen.
CH: Wie lief der Unterricht bei Direktor Streckfuß ab?
MG: Georg Streckfuß war eigentlich Cellist, auch wenn er annähernd alle Instrumente spielen konnte. Neben dem Einzelunterricht auf den Instrumenten gab es Gruppenunterricht in Theorie und Arrangieren. Posaunenunterricht bekam ich nebenher privat in Bad Windsheim bei einem Amateurposaunisten, Herrn Franz Schmitt, der mir die wichtigsten Grundkenntnisse vermittelte. Das hatte mein Vater organisiert, auch wenn die Bezahlung damals öfters problematisch war. So haben mir meine Eltern, die einen kleinen Bauernhof betrieben, wenn zu wenig Geld da war, als Honorar ein halbes Pfund Butter oder Eier, Wurst und selbstgebackenes Brot mitgegeben. Aber nach nur einem Jahr Unterricht konnte ich bereits bei einem Sinfoniekonzert bei der Unvollendeten von Schubert die 3. Posaune spielen.
Damals hatte ich auch bereits Unterricht auf dem Tenorhorn, was mir später sehr geholfen hat. Denn zehn Jahre später konnte ich im Sinfonieorchester der Staatsoper Hannover, als die 7. Symphonie von Mahler auf dem Programm stand, das berühmte Tenorhornsolo übernehmen, mit dem die Sinfonie beginnt. Ich habe mich darauf spezialisiert, sodass ich immer die Soli für Tenorhorn übernommen habe. Da die Posaune die gleiche Tonlage hat, war es für mich betreffs des Ansatzes überhaupt keine Umstellung. Ich konnte dasselbe Mundstück für die Posaune, das Tenorhorn und die Tenortuba verwenden.
CH: Wie sind Sie an das Staatskonservatorium gekommen?
MG: Es begann mit einem Konzert der Stadtkapelle auf dem Rothenburger Marktplatz, bei dem mich der damals neue Würzburger Professor Walter Daum hat Soli spielen hören. Er kam dann zu mir, hat sich vorgestellt und mich eingeladen, ihm vorzuspielen – was ich dann auch getan habe, obwohl es bereits Oktober war. Das Studienjahr hatte bereits begonnen, aber damals konnte man auch während des Semesters eingeschrieben werden. Neben Prof. Daum hat der stellvertretende Direktor und Hornlehrer Prof. Lindner meine Aufnahmeprüfung abgenommen. Da ich eine sehr gute, praxisbezogene Vorbildung hatte, war das kein Problem für mich. Ich habe einige Werke der Posaunenliteratur und auf dem Klavier eine Sonatine von Mozart (C-Dur) auswendig vorgespielt. In der Theorieprüfung musste ich nur einige Akkorde im Quintenzirkel anspielen – das war’s. 1953 hat das genügt.
CH: Wie war der Unterricht hier?
MG: Damals war das Konservatorium ja noch in der Villa Völk mit ihrem wunderschönen Park, wo wir die Pausen verbracht haben. Um in das Posaunenzimmer zu gelangen, das im oberen Stockwerk war, musste man immer durch das Hornzimmer von Herrn Lindner gehen, mitten in seinem Unterricht. Das hat keinen gestört, auch nicht, dass man sich gegenseitig durch die Türen und Wände hindurch deutlich gehört hat. Um üben zu können, haben wir den Hausmeister Erlbeck bestochen, dass er uns in den Heizraum oder Kohlenkeller ließ. Da war es im Winter wenigstens warm. Neben dem Hauptfachunterricht bei Prof. Daum hatte ich Klavierunterricht bei Prof. Lindner und Kontrabassstunden bei Prof. Reuschel. Herr Daum hatte mir gesagt, ich solle Kontrabass lernen, weil Herr Reuschel noch Schüler bräuchte und ich mich mit diesem Instrument trotzdem gut auf die Posaune konzentrieren könnte. Das habe ich dann auch einige Semester lang getan. Ich habe aber bald gemerkt, dass es für mich viel wichtiger war, mich auf mein Hauptfach Posaune zu konzentrieren.
CH: Können Sie den Unterricht bei Ihren Lehrern genauer beschreiben?
MG: Der Unterricht bei Prof. Daum war wunderbar. Als ehemaliger Geiger – er hatte als Kind das Instrument erlernt und schon als Zwölfjähriger in Kinoorchestern in Mannheim ausgeholfen – hat er viel gesungen und gestikuliert beim Erklären. Dazu muss man Folgendes wissen: Früher war es in Deutschland üblich, dass man als Posaunist gerade Töne gespielt hat. Prof. Daum hat stattdessen sehr gesanglich und damit eigentlich viel musikalischer gespielt. Das hatte nicht nur mit der Geige zu tun, sondern kam auch daher, dass er während seiner Zeit als 1. Posaunist beim Stabsmusikkorps Paris (1942-1944) André Lafosse kennengelernt hat. Er hat von der französischen Schule die Konzentration auf das solistische Spiel übernommen und für seinen Unterricht die ganz neue Posaunenschule von Lafosse[1], außerdem das französische Repertoire. Man bemerkt das an den Stücken, die wir Schüler bei den Öffentlichen Musizierstunden und den Internen Vorspielstunden des Staatskonservatoriums vorgetragen haben: die Vokal-Etüden von Henri Busser[2], das Solo von Jean Georges Pfeiffer[3], René Duclos‘ Sa Majesté le Trombone[4] usw. Jedenfalls habe ich in kürzester Zeit bei ihm das Posaunenspiel richtig erlernt. Dabei war er als Lehrer überhaupt nicht streng. Das war auch gar nicht nötig, weil wir alle interessiert und begeistert bei der Sache waren. Prof. Daum war mehr als ein Lehrer für mich und meine Kollegen; er war ein richtiger Mentor und Vater für seine Schüler.
Zum Klavierunterricht bei Prof. Lindner kann ich nur sagen, dass ich zur Abschlussprüfung nicht viel besser gespielt habe als bei der Aufnahmeprüfung. Da hat sich nicht viel getan… Der Unterricht bei Prof. Reuschel war noch weniger erfolgreich. Ich habe kaum geübt, es fiel mir immer schwerer.
CH: Die Atmosphäre in der Posaunenklasse Daum scheint sehr familiär gewesen zu sein.
MG: Ja, sie war eine richtige Familie.
CH: Mich hat ein Foto der Klasse von 1958 beeindruckt, auf dem man vor der Villa Völk Walter Daum sieht, umrahmt von 15 Schülern mit ihrem Instrument in der Hand – und einer Frau, Gertrud Markert, der Korrepetitorin.[5].
MG: Ich habe keine Erinnerung an Frau Markert, da ich 1958 bereits im Theaterorchester in Freiburg war. Aber es gab damals in der Klasse von Prof. Daum eine Studentin, Erika Lier, die heute noch in Würzburg wohnt. Die war sehr forsch. Ich meine damit: Erika hat sich selbstbewusst hingestellt und „feste drauflos geblasen“. Ihr Vater hatte eine bekannte Bierzelt-Kapelle, in der Erika erfolgreich für Stimmung gesorgt hat.
CH: Sie sagten, dass es damals in Deutschland nicht üblich gewesen ist, quasi singend mit Vibrato zu spielen. War es da nicht schwierig eine Orchesterstelle zu finden?
MG: Ja, es war schwierig. Ich kann mich noch sehr gut an mein erstes Probespiel erinnern. Es ging um eine Stelle für eine tiefe Posaune, wovon mir Prof. Daum eigentlich abgeraten hatte, weil er meinte, ich sei kein tiefer Posaunist. Ich bin trotzdem heimlich hingefahren und habe vorgespielt. Bereits nach den ersten Takten haben die Kollegen mich unterbrochen und gefragt, ob ich sehr nervös sei – weil mein Ton so wackeln würde. Ich würde doch wohl kein Vibrato spielen!? Bei ihnen seien nur gerade Töne erwünscht! Es kam dann bei den Orchesterstellen das Vertragsmotiv aus Rheingold dran, wo aber die tiefen Töne einfach nicht kamen, weil ich kein Quartventil an der Posaune hatte. Daraufhin habe ich vorgeschlagen, noch ein Solostück zu spielen. Da ist der Soloposaunist aufgestanden und hat mit Nachdruck gesagt, dass er der Soloposaunist sei und sie keinen zweiten Soloposaunisten bräuchten, sondern einen, der die tiefen Töne spielt. Er meinte noch, ich solle nach Hause fahren, mir ein Ventil für die tiefen Töne besorgen und zur nächsten Runde des Probespiels wiederkommen. Prof. Daum hat mir aber geraten, nicht mehr hinzufahren und mich nur noch auf Stellen für hohe (1. und 2.) Posaune zu bewerben.
CH: Wie ging es weiter?
MG: Für meine Karriere entscheidend war ein Zufall, ein für mich sensationelles Erlebnis, das ich bald danach hatte. Und zwar war Prof. Daum im Stadttheater als Aushilfe beim Rosenkavalier vorgesehen. Er hatte wenig Opernerfahrungen, kannte das Stück aber von der Staatsoper Stuttgart gut. Mit mir ist er vorher öfters den Rosenkavalier durchgegangen, vor allem natürlich im Hinblick auf die schweren Stellen. Nun musste er aber kurzfristig ins Krankenhaus. Als ich dann nach der Mittagspause gegen Nachmittag wieder ins Konservatorium zurückgekommen bin, kam der Hausmeister Herr Karl Erlbeck auf mich zu und teilte mir mit, dass das Theater angerufen hätte und mich bitte, am gleichen Abend die 1. Posaune im Rosenkavalier zu spielen. Als ich das ablehnte, da ich noch nie eine Oper gespielt hatte, antwortete er mir, dass ich das doch könne; er habe ja gehört, wie ich das ständig geübt hatte. Nun hatte Prof. Daum mich vorher bereits in eine Probe mitgenommen zum Wittelsbacher Platz in die Schule, wo sich früher das Theater bis zur Eröffnung des Neubaus 1966 befand. Daher kannte ich den 2. Posaunisten. Den habe ich angerufen, mich vorgestellt und ihm die Lage geschildert. Ich habe ihm gesagt, dass ich die 1. Stimme nicht übernehmen könne. Aber er hat mich überredet, denn es war ja nicht so wie heute möglich, schnell eine Aushilfe aus Frankfurt oder Nürnberg zu holen, da ja niemand ein Auto hatte. Vor der Aufführung ist der 2. Posaunist das Werk zwei Stunden lang mit mir durchgegangen. Und er hat mir versprochen, dass er halblaut mitzählen und mir die Einsätze zeigen würde. Ich habe das schließlich hinbekommen, ohne negativ aufzufallen. Das hatte es bei einem Studenten noch nie ohne Probe gegeben! Der Dirigent hat mich dann sofort für die weiteren Vorstellungen engagiert. Da war ich 20 und bekam dann auch für ungefähr ein halbes Jahr einen Aushilfsvertrag.
Da ich jedoch an Probespielen für Festanstellungen teilnehmen wollte, dies aber aufgrund der Verpflichtungen meines Aushilfsvertrags nicht konnte, wollten sie mir helfen. Für mich wurde in Würzburg ein Probespiel abgehalten, bei dem ich in einer ganzen Stunde alles vorspielte, was ich konnte. Daraufhin hat mir die Theaterleitung unverzüglich versprochen, dass, wenn der nächste Kollege berentet wird, die Stelle nicht ausgeschrieben wird, sondern ich diese dann sicher bekomme.
CH: Dazu ist es aber nie gekommen…
MG: Genau, denn ich bin trotzdem zu einem Probespiel nach Aachen gefahren. Ich habe es mit Erfolg absolviert, wurde aber trotzdem nicht genommen, da die Kollegen, wie sie mir hinterher freimütig bei einem Bier in der Kantine erzählten, ihren Freund Hans aus Freiburg nehmen wollten. Der hat mir dann angeboten, mir eine Einladung zum Probespiel nach Freiburg zu besorgen. Und die Stelle habe ich dann endlich bekommen! Die Spielzeit begann dort übrigens mit dem Rosenkavalier. Und der Zufall wollte es, dass ich mit dieser Oper zwei Jahre später meine Tätigkeit in Hannover begann. Der Rosenkavalier hat mich mein Leben lang beschäftigt: Ich bekam einmal einen Anruf, ob ich ihn in zwei Tagen in Palermo spielen könne - was ich dann auch getan habe.
CH: Zurück zu Ihrer Studienzeit in Würzburg! Haben Sie in Ihrer Studienzeit eigentlich von dem, was Ihr Vater verdient hatte, leben können oder mussten Sie arbeiten?
MG: Ja, ich musste natürlich arbeiten. Ich habe damals immer Akkordeon in der Tanzmusik gespielt. Das lief alles über meinen Vater, der das vermittelt hatte.
CH: Waren oder sind Sie dann auch ein guter Jazzer?
MG: Nein, leider gar nicht. Ich hatte da nie den Zugang gefunden, auch weil ich als Klassiker immer sehr gefragt war und immer unterwegs war. Ich habe schon durchaus Jazz gespielt, wo es ging, aber als Tanz- und Unterhaltungsmusiker war ich nie besonders gut.
CH: Gibt es auch etwas, das Ihnen in Ihrer Studienzeit nicht gefallen hat?
MG: Ich fand alles großartig. Ich kam ja vom Land und da war für mich Würzburg als Stadt schon die große weite Welt. Und dann Prof. Daum: Er hat mich so stark gemacht und mein Selbstvertrauen aufgebaut, dass ich der Meinung war, ich wäre der allerbeste und könnte die Posaunenwelt erobern. In positiver Erinnerung habe ich den Theorieunterricht bei Dr. Roland Häfner und den Unterricht in Musikgeschichte bei Prof. Franz-Xaver Lehner. Auch die Konzerte bei den Mozartfesten 1955 und 1956 mit Erika Köth und Fritz Wunderlich bleiben unvergesslich.[6] Viele Mitstudierende sind mir in Erinnerung geblieben.
Zu meinem langen, sehr interessanten und erfolgreichen Berufsleben gehört der Glücksfall, dass ich seit über 60 Jahren, eigentlich eine unvorstellbar lange Zeit, mit der Hochschule für Musik Würzburg verbunden bin.
Nachbemerkung: Interviews, die weitere Facetten der Biographie und Unterrichtsmethode von Martin Göß beleuchten, sind erschienen in: IPV-Printjournal Nr. 10, Sommer 2008, S. 4-7 u. Nr. 11, Herbst 2008, S. 12-15; Podium. Magazin der HfM Würzburg, Nr. 3, S. 58-65
Fußnoten
- ^ Vgl. André Lafosse, Méthode Complète de Trombone á Coulisse, 3 Bd., Paris 1946.
- ^ Gespielt von Martin Göß am 19.1.1955, vgl. 77. und 78. Jahresbericht des Bayerischen Staatskonservatoriums der Musik Würzburg, Würzburg 1956, S. 30.
- ^ Gespielt von Martin Göß am 16.5.1956, vgl. ebd., S. 57.
- ^ Gespielt von Martin Göss am 14.11.1956, vgl. 79. und 80. Jahresbericht des Bayerischen Staatskonservatoriums der Musik Würzburg, Würzburg 1958, S. 28.
- ^ Siehe unten Abb. 10; vgl. dazu das Interview mit Getrud Then geb. Markert.
- ^ Erika Köth (Sopran) trat bei der Nachtmusik im Hofgarten am 25. Juni 1955 und Fritz Wunderlich (Tenor) am 9. Juni 1956 auf. Beide sangen Mozart-Arien.




