Dr. Burkhard Schmidt
über seine Studienzeit am Staatskonservatorium der Musik Würzburg (1952-1962)
Burkhard Schmid: Geb. 1939 in Jena/Thüringen (als jüngstes der 4 Kindern von Prof. Dr. Hermann und Edith Schmidt). 1945 Evakuierung der Familie nach Heidenheim a. d. Brenz. Besuch der dortigen Volksschule und der ersten 3 Klassen Oberschule. 1951 Umzug nach Braunschweig. Besuch der Oberschule. 1953 Umzug nach Würzburg, fortan Lebensmittelpunkt. Besuch der Oberrealschule (heute Röntgengymnasium). 1959 Abitur. Im gleichen Jahr Beginn des Studiums der Psychologie und der Musikwissenschaft. Ab 1961 wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Psychotherapie und Medizinische Psychologie der Universität Würzburg. 1963 Abfassung einer empirischen Vordiplomarbeit mit musikwissenschaftlicher Thematik. Beginn der Nebentätigkeit als Leiter von Studienreisen (Anfängliche Schwerpunkte: Balkan und Irland). 1966 Diplom in Psychologie. Von 1966 bis 2004 wissenschaftlicher Mitarbeiter an o.g. Institut. 1976 Anerkennung als Klinischer Psychologe (Umwandlung in Approbation als Psychologischer Psychotherapeut 1999). 1978 Promotion zum Dr. phil. Vorstandstätigkeiten in wissenschaftlich-psychotherapeutischen Vereinigungen. Gründung eines Ausbildungsinstituts für tiefenpsychologisch orientierte Psychodramatherapie. Weitere Tätigkeiten: Psychotherapeutische Privatpraxis. Veranstaltungen und Leitung von Studienreisen, darunter klassisch orientierte Musikreisen.
Vorbemerkung: Es handelt sich um die schriftliche Fassung eines am 27. Februar 2014 geführten Gesprächs. Die Fragen stellte Christoph Henzel.
CH: Welche Rolle hat Musik in Ihrem Elternhaus gespielt?
BS: Eine große Rolle. Mein Vater Hermann Schmidt war nicht nur Mathematiker, sondern auch musikbegeistert und vielseitig interessiert. Musik war seine große Leidenschaft; er spielte sehr gut Klavier. Er wollte auch Musik studieren, wozu es dann aber nicht gekommen ist, weil ihm die Mathematik doch mehr zugesagt hat. Aber wir wissen ja auch, dass Mathematik und Musik gewisse Parallelen und Verbindungen haben. Vielleicht hat ihn Bach deswegen auch besonders fasziniert. Bach – so sagte er oftmals – sei der einzige Komponist, der niemals zweitrangige Musik komponiert habe. Dazu habe wohl auch ein wenig die Mathematik beigetragen. Bach und die Mathematik kämen dem Ideal der Erkenntnis besonders nahe. Musikhören war für meinen Vater eine „heilige Handlung“. Nie erklang zu Hause in seinem Beisein Musik wie nebenbei zur lockeren Unterhaltung. Mein Vater hörte Musik aus dem Radio nur nach Plan und völlig konzentriert. Die Klangqualität des Radioapparats war dabei nicht das Entscheidende. Auch der einfache „Volksempfänger“ vermochte ihm musikalische Welten zu eröffnen. Am liebsten aber spielte er selber Klavier oder mit uns Kindern Sonaten, Klaviertrios, Streichquartette. Obwohl ihm Beethoven und Brahms sehr viel bedeuteten, hat er stets auch ein offenes Ohr für seltener gespielte, spätromantische und neuere Musik gehabt. Meine Mutter liebte vor allem Barockmusik, sang im Kirchenchor, spielte etwas Klavier und verkörperte eine Person, die ganz einfach Freude an der Musik hat, ohne vielleicht die letzte Tiefe auszuleuchten.
CH: Stammt Ihre Familie aus Würzburg?
BS: Nein, ich bin 1939 in Jena geboren, mein Vater ist Mittelfranke aus Merkendorf in der Nähe von Ansbach und meine Mutter Thüringerin. Als wir in Jena waren, kurz bevor die Russen kamen, hatten die Amerikaner uns einen Lastwagen vor die Türe gestellt und gesagt: Was innerhalb von 24 Stunden neben meinem Vater noch an Mensch und Möbel verladen wird, kommt in den Westen. Mein Vater, der Wissenschaftler, sollte weg von hier. Die Amerikaner haben dafür gesorgt, dass wir in den Westen konnten; sie haben aber nicht bei der Einbürgerung oder Vermittlung geholfen. Nachdem sie uns in einem Lager abgesetzt hatten, verschwanden sie auch schon. Die erste Zeit verbrachten wir in Heidenheim an der Brenz nördlich von Ulm. Mein Vater gab dort erst einmal Geigen-, Bratschen- und Klavierunterricht.
CH: Er konnte problemlos vom Wissenschaftler zum Musiker umschalten?
BS: Ja, notgedrungen, und die Musik gehörte ja auch zu seinem Leben. Er kam dann – der Familie, die nachzog, immer einen Schritt voraus – zunächst als Professor an die TH nach Braunschweig und schließlich nach Würzburg an die Universität.
Auch bei mir war das Interesse an der Musik schon sehr früh erwacht. Zum Cello kam ich allerdings erst mit 12 Jahren, als ich nämlich endlich ein Instrument erhielt, was ich mir schon lange gewünscht hatte. Ich muss heute aber zugeben, dass ich nur in den Wortklang Cello so verliebt gewesen war. Als man mir dann ein richtiges Instrument Cello auf die Couch legte, und die Familie mich erwartungsvoll anblickte, war ich über den zerbrechlich anmutenden Holzkörper eher enttäuscht. Ich mimte allerdings den Begeisterten und so erhielt ich schon bald meinen ersten Unterricht bei Herrn Jurisch, einem bekannten Cellolehrer in Braunschweig. Schon bald identifizierte ich mich aber mit dem Cello, und so belehrte ich einmal einen Straßenbahnschaffner, der mir wegen des mitgeführten Cellos eigene Beförderungskosten abverlangen wollte, selbstbewusst, dass er wohl noch lernen müsse, ein Cello von einem Kontrabass zu unterscheiden; jedenfalls könne doch jedermann in der Straßenbahn kostenlos ein Cello bei sich führen. Es bräuchte ganz wenig Platz, und für gewöhnlich hielte man es eh ganz nahbei sich auf dem Schoß. Ein Cello sei halt kein Kontrabass… Als 14jähriger kam ich nach Würzburg. Hier wurde ich zuerst Schüler von Margarete Kindermann [1] und dann Hospitant am Staatskonservatorium. Das bedeutete, dass ich eine halbe Stunde Unterricht pro Woche hatte und keine Nebenfächer belegen musste. Damals besuchte ich ja noch die Oberschule. Ich hatte ab 1956 in der Villa Völk bei Prof. Franz Fassbender Unterricht, mehr als 7 Jahre lang. Ich erinnere mich noch, dass er immer guter Laune war, und dass man, um in sein kleines Erkerzimmer im oberen Teil der Villa zu gelangen, bei Prof. Karl Bender durch das Bratschenzimmer hindurchgehen musste. Während Prof. Bender immer leicht gereizt darauf wartete, dass die Celloschüler bald im Cellozimmer verschwinden würden, konnte ich nicht umhin, stets ungläubig noch Benders Ritter-Bratsche zu betrachten, die so außergewöhnlich groß war, viel größer als die meines Vaters.
CH: Können Sie sich noch an Ihren Musikunterricht in der Schule erinnern?
BS: Über viele Jahre, bis zum Abitur 1959, war Studienrat Friedrich Ebert unser Musiklehrer an der guten alten OB (Oberrealschule, später umbenannt in Röntgengymnasium) in Würzburg. An ihn erinnere ich mich erstaunlich gut und gerne, und vor allem: Er beschäftigt mich innerlich heute noch. Auf die wöchentliche Unterrichtsstunde freute ich mich sehr. Einerseits deshalb, weil ich ganz angetan davon war, wie er es verstand, den nur wenig an Musik interessierten Mitschülern diese auf anspruchsvollem Niveau näher zu bringen, dann aber auch deswegen, weil er ebenso uns „Fortgeschrittene“ nie aus den Augen verlor und uns förderte, zum Beispiel dadurch, dass er uns zum Denken anregte. Mein Vater hatte mich in die Musik eingeführt und ich hatte mir viele seiner Ansichten angeeignet. Friedrich Ebert aber zeigte mir, dass man sich mit Musik selbst auseinandersetzen müsse, um zu persönlichen Überzeugungen zu gelangen.
Des Weiteren imponierte mir Friedrich Ebert wegen seiner unermüdlichen Schaffenskraft und Bescheidenheit. Beides gehörte bei ihm zusammen. Wir sangen von ihm selbstkomponierte Chöre, studierten eines seiner Streichquartette ein und mit seiner Schüleroper Das Urteil gelang es ihm, sich auch einem breiteren Publikum bekannt zu machen. Die Musik seiner Oper sprühte von Einfällen, wobei die orientalisch anmutenden Klänge und der Einsatz von zum Teil selbstgebastelten Schlaginstrumenten bei allen Mitwirkenden große Begeisterung auslösten. Dass es zu keinem größeren Durchbruch bezüglich der Bekanntheit von Friedrich Ebert gekommen ist, war mir damals völlig unerklärlich. Er war einfach zu bescheiden, jedenfalls nicht kraftvoll genug, sich besser zu präsentieren. Und er übertrug diese Bescheidenheit auf seine musikbegeisterten Schüler. So machte er einmal eine Tonbandaufnahme, als wir das Cellokonzert e-Moll von Vivaldi mit mir als Solist spielten. Beim Abspielen fand ich die Interpretation richtig gelungen. Ich wusste gar nicht, dass unsere Musik so schön klingt. Auf meine Frage hin, ob ich vielleicht eine Kopie dieser Aufnahme erhalten könne, bekam ich in der nächsten Unterrichtsstunde von ihm die Antwort, dass er die Aufnahme schon wieder gelöscht habe. Aber es sei doch alles sehr gut gewesen, bemerkte er – fast verwundert über meine Frage, die wohl aus seiner Sicht meinen Wunsch nach Bestätigung von außen zum Ausdruck brachte. Und als ich anlässlich der Musikprüfung am Ende des Schuljahrs jene bekannte Barockarie von der erkrankten Nina (in vereinfachter Form) zart und einfühlend, aber auch zupackend mit ihm am Klavier zum Besten geben wollte, unterbrach er jäh meinen Gesang und ließ mich mit der Bemerkung: „wunderbar, Note 1, der Nächste bitte“ sozusagen im Regen stehen. Ich fand es schade, dass er mir so die Freude über meinen Erfolg beschnitt, aber auf der anderen Seite erhob er mich fast auf die Höhe eines selbstbewussten Meisters, der keines Beifalls mehr bedurfte, um sein Selbstwertgefühl zu entwickeln oder zu stabilisieren. Mein Vater hatte einmal nach langem Probenkampf um die Gestaltung eines Beethoven-Streichquartetts sinngemäß gesagt: Jetzt schimmert etwas durch von dem, was Beethoven durch seine Musik wohl habe sagen wollen. Vom Ziel, dachte ich mir dann, sind wir noch meilenweit entfernt. Friedrich Ebert dagegen trug mich mit kühnem Griff gleich an den Rand des Götterhimmels. Hier bedurfte es keines Nachweises mehr der eigenen Könnerschaft und keine Abhängigkeit vom Beifall anderer. Er hat mich so ein Stück Bescheidenheit gelehrt: Selbstachtung trägt weiter als das stete Ringen um Erfolgsbestätigung.
CH: Beabsichtigten Sie, nach dem Abitur ein Cello-Studium aufzunehmen?
BS: Nein, das war von vornherein klar, dass ich das nicht wollte. Das wusste auch Prof. Fassbender. Es hatte den Vorteil, dass es mir als Hospitant zuhause recht gut ging. Mein Vater war meiner Schwester Irmtraut gegenüber, die Berufsmusikerin werden wollte und der er schon als Kind Geigen- und Bratschenunterricht gegeben hatte, streng und sehr anspruchsvoll. Sie war schlimm dran, auch emotional, da sie wahnsinnig viel übte und selbst nie mit sich wirklich zufrieden war. [2] Sie hat acht bis neun Stunden täglich gespielt. Kaum war das Essen beendet, kroch sie wieder in ihren Keller und übte weiter. Das hat ihr zeitweise zugesetzt. Ich wollte diese Belastung nicht. Als Laienspieler ging es mir da ganz anders. Mein Vater freute sich an meinen kleinen Fortschritten, was auch meine Schwester tat. So lebte ich einigermaßen glücklich.
CH: Wie war Franz Fassbender als Lehrer?
BS: Wenn man bei ihm von einer „rheinischen Frohnatur“ spricht, ist da durchaus etwas dran. Er war im Tiefgang mit der Musik in der Weise, wie man es sich bei einem Kölner so vorstellt. Er konnte schon in die Tiefe gehen, war dabei aber immer schwelgerisch, ja ein bisschen narzisstisch, sich selbst darstellend. So ist er auch gestorben, indem er mitten während eines Konzerts in Schweinfurt, das er den 6 Suiten für Cello Solo von Bach widmete, über seinem Instrument zusammenbrach. Das Cello war hin und er war tot. Er wollte die Musik nicht aushorchen auf ihren philosophischen Gehalt, sondern ging sehr emotional an sie heran. So hat er zum Beispiel die Suiten von Bach romantisch gespielt, romantisch verklärt, wie man heute sagen würde. Er hat viele Bögen gesetzt, die im Original nicht vorhanden sind. Für ihn als Lehrer war es ein Höhepunkt, als er zwölf Cellisten zusammenbrachte, die den Hymnus op. 57 von Julius Klengel gespielt haben. Er liebte diese Musik.
CH: Wie hat er mit ihnen an den Stücken gearbeitet?
BS: Zunächst ließ er mich das zu Hause Geübte vorspielen, gefolgt von kurzem Lob oder maßvoller Kritik. Er saß mir schräg gegenüber, entweder mit eigenem Cello, oder am offenen Klavier zur Seite. Seine Anweisungen waren deutlich: mit Worten, als Modell, und auch körperbezogen-zugreifend. Ich habe wirklich viel gelernt von ihm. Zwischendrin nahm er mich hinein in die Welt, für welche eine bestimmte Komposition Ausdruck sein würde. Was habe der junge Fürst am Versailler Hof denn den ganzen Tag gemacht? Na, er hat sich in eine hübsche Hofdame verliebt, litt den ganzen Tag so vor sich hin und schmachtete dem Abend entgegen, an dem sie ihm doch hoffentlich gewogen sein würde. Fassbender nahm das Cello oder setzte sich ans Klavier und ließ den Liebeschmerz verinnerlicht, dabei aber trotzdem leicht, ergreifend schlicht und ohne jedes Pathos musikalische Gestalt annehmen. Ich habe fast erst über die französische Barocksonate gelernt, was es heißt, unglücklich verliebt zu sein. Sehnsuchtsvolles Begehren habe nicht so sehr den Sinn, dass es in Erfüllung gehe, so schien ich ihn verstanden zu haben, sondern diene dazu, eine unwiderstehlich schöne, von schwebender Melancholie getragene Musik zu machen. Wenn ich einmal in der Lage wäre, solche Stimmungen am Cello zum Ausdruck zu bringen, würde ich einmal Menschen wirklich rühren, meinte Fassbender. Und wenn einmal die Russen ins Land kämen, hätte ich nichts zu befürchten. Wer so musizieren könne, den würden sie nie als Feind betrachten. Als er hier den Sprung zu den einleitenden langsamen Takten von Pablo Sarasates Zigeunerweisen am Klavier und mit seiner Stimme vollzog, zeigte er mir auf, wie bestimmte Musik zu gewissen Zeiten bei besonders sensiblen Menschen Stimmungen zu erwecken vermochte, die bis zum Impuls, augenblicklich aus dem Fenster zu springen, führen könnten. Freilich habe Sarasate durch den abrupten Tempowechsel vorgesorgt und so das Schlimmste meistens verhindern können… In seinem musikalischen Ausdruck fand ich Fassbender zwar romantisch, aber niemals sentimental. Jegliche vordergründigen Effekte wie schmalzige Tonverbindungen vermied er. Hinter einfachster Tongestaltung verbarg sich eine reiche Gefühlswelt. Na ja, und einen köstlichen Schuss Humor hat Herr Fassbender stets auch gehabt. Nein, für sein Konzert heute Abend solle ich keine Eintrittskarte lösen. Ich solle einen Notenständer in die Hand nehmen, ganz kurz vor Konzertbeginn zum Kartenkontrolleur rennen und ihn darauf verweisen, dass der Solist seinen Notenständer vergessen habe und das Konzert ja gleich beginnen solle. Natürlich würde man mich gleich weiterschicken. Und bevor dem Kartenabreißer anschließend der Gedanke käme, dass Professor Fassbender ja doch bestimmt nicht nach Noten spielen würde, solle ich schon auf einem freien Sitz Platz genommen haben, das Gesicht im Programm vergraben.
CH: Welche Stücke haben Sie bei ihm gespielt?
BS: Die erste Sonate, die ich gespielt habe, war jene in C-Dur von Jean Baptiste Breval. Wenn ich heute Cellisten frage, ob sie diese Sonate kennen, dann erfahre ich, dass sie auch heute noch gerne als erstes größeres Stück gespielt wird. Ich erinnere ich mich an weitere Barockwerke, wie z.B. von d‘Herveloise, Marcello, de Fesch, Bach und Händel [3]. Natürlich beschäftigten wir uns auch mit Musik aus der späteren Zeit. Viel Spaß machte zum Beispiel die Erarbeitung einiger Kompositionen von Georg Goltermann, der ja auch kurz einmal in Würzburg tätig war [4]. Dann kamen Stücke von Felix Mendelsohn Bartholdy, Camille Saint-Saens, Anton Rubinstein und Richard Strauss hinzu. Auch von Hermann Zilcher, den mein Lehrer sehr geschätzt hat, habe ich einmal etwas gespielt. [5] Mein Unterricht ging nicht sehr weit, nur bis zu einem Haydn-Konzert. Mein „Hauptschlager“ war das Konzert e-Moll von Vivaldi, das ich auch einmal mit kleiner Orchesterbesetzung im Gartensaal der Würzburger Residenz spielen durfte.[6]
CH: An welche Lehrer und Kommilitonen erinnern Sie sich noch?
BS: Natürlich an den Direktor Hanns Reinartz, ganz spontan fällt mir jetzt aber auch unser Hausmeister ein, Herr Erlbeck, der wegen seiner Hilfsbereitschaft und seines verständnisvollen, mitunter tröstenden Umgangstones sehr beliebt war. Herr Erlbeck begleitete mich später noch eine lange Zeit. Bis vor einigen Jahren hat er nämlich vor Konzerten in der Musikhochschule in der Hofstallstraße noch die Eintrittskarten kontrolliert. Und stets gedachten wir in einem kurzen Wortwechsel der guten alten Zeit im Judenbühlweg. Doch Sie fragten ja nach den Lehrern. Ich kannte den Kinderarzt Reichling, der den nach ihm benannten Chor leitete, wie auch seine vier Töchter, die alle am Konservatorium studierten. Ebenso den Oboenlehrer Kurt Hausmann, der ein sehr smarter Mann gewesen ist, den Kontrabasslehrer Prof. Reuschel, der rein körperlich genau zu seinem Instrument gepasst hat, und den Klarinettenlehrer Flackus in seiner stets recht umgänglichen Art, den Pianisten Knettel, dessen Nachbar im Frauenland ich war, wobei ich bei einer Begegnung auf der Straße stets zunächst ihn und dann seinen kleinen Hund zu begrüßen pflegte.
Die Lehrer veranstalteten jede Menge Konzerte und brachten bei den Vorspielabenden ihre Schüler nach vorne. Das Orchester spielte auch außerhalb des Konservatoriums, wobei ich öfters in der Gruppe der Celli beteiligt war. Ein Höhepunkt der Orchestertätigkeit war übrigens unsere Konzertreise nach Caen (anlässlich der Etablierung einer Partnerschaft mit der Stadt Würzburg) und Evreux in der Normandie im Jahre 1961. Auf dieser Reise ist man auch mit den Lehrern öfters ins Gespräch gekommen.
Selbstverständlich gab es auch den Austausch mit Kommilitonen und Kommilitoninnen. Als Hospitant war mein Aufenthalt im Staatskonservatorium zwar zeitlich sehr eingeschränkt. Da meine Schwester Irmtraut aber zur gleichen Zeit Violine studierte, war ich denn doch mit einigen Mitstudierenden bekannt, die ich sonst vielleicht nicht kennengelernt hätte. Da gab es den Pianisten Manfred Dietz, den Cellisten Rainer Faupel, den Oboisten Ekkard Wunderer, die Geigerin Christiane Gilek und nicht zuletzt meine Duo-Partnerin Traudl Schrader, mit der ich so manche kleine Festlichkeit mit einem Duo für Violine und Cello von Carl Stamitz umrahmte. Dank der baulichen Struktur der Villa Völk gab es auch eine Art Sozialraum, in dem es stets zu zwanglosen Begegnungen kommen konnte. Es war dies das große hölzerne Foyer in der Mitte der Villa mit dem Treppenhaus und das von einer Balustrade umrahmte 1. Geschoss. Hinzu kam der lauschige Garten mit seinen Steinbänken. Jeder musste beim Ankommen oder Weggehen diesen Bereich passieren. Insofern konnte man gar nicht keinen Kontakt haben. Diese Begegnungsmöglichkeit hatte zuweilen auch quasi-therapeutische Funktion. Wer aus einer bedrückenden Unterrichtsstunde kam, fand hier Trost im Gespräch. Auch die Dozenten mussten diese zentrale Zone passieren und waren somit ansprechbar. Charakteristische individuelle Verhaltensabläufe zeichneten sich ab; sie schufen Normen im Gruppenleben und unterstützten die Bildung eines Zusammengehörigkeitsgefühls. Wenn zum Beispiel draußen die Bremsen quietschten, dann war es Prof. Schallers Lieblingsschüler Gerhard Canzler, der mit seinem Fahrrad die steile Abfahrt zur Villa hinunterbremste, die Geige senkrecht im Wanderrucksack verpackt, die Wirbel unter einem Stofftuch versteckt (erst später benutzte er einen stabilen Geigenkasten). Er hatte stets eine lange Anfahrt zu bewältigen; war er angekommen und hatte er die Umstehenden in seinem umwerfenden Sächsisch begrüßt, konnte der Tag beginnen.
Da fällt mir noch etwas ein: der Übergang vom vertrauten Aufenthaltsraum des Foyers in den Konzertraum, in dem die Vorspielabende stattfanden. Dieser kurze Weg verband zwei Welten, vermochte Fremdheit und Ängste zu steigern wie auch zu mildern – je nachdem in welche Richtung man ihn beging. Denn allgegenwärtig war ja auch damals schon der Leistungsdruck: Jeder musste hier arbeiten, bis an seine Grenzen. Leistungsforderung, Auftritt auf der einen Seite, Entspannung, Rückzug auf der anderen – in diesem Spannungsfeld vollzog sich schließlich das gesamte Leben am Staatskonservatorium.
CH: Welche Pläne verfolgten Sie mit der Musik, da Sie doch kein Studium beginnen wollten?
BS: Zunächst hatte ich keine konkreten Pläne. Die klassische Musik sprach mich persönlich sehr an, ihre Schönheit, ihre Tiefe, die ihr innewohnende Melancholie. Sie gab mir Gelegenheit mich in ihr selbst zu finden. Musik machen, Musik hören, so könnte man sagen, hatte und hat für mich immer noch einen Selbstzweck. Diese Freude an der Musik wollte ich mir durch ein Cello-Studium aber nicht nehmen lassen. Doch freiwillig Musik zu machen, durchaus mit ein bisschen Nervenkitzel bei Auftritten, aber ohne dabei meine Existenz an meine musikalischen Leistungen knüpfen zu müssen, das war doch eine glänzende Idee: Das Dabeisein, in einer Gemeinschaft miteinander ein Musikwerk erarbeiten und reflektieren zu können, angesichts meiner Laienhaftigkeit dennoch bzw. gerade derentwegen auch auf Anerkennung nicht verzichten zu müssen, vielleicht auch das prickelnde Gefühl, mir auszudenken, was ich vielleicht im Falle einer weiterführenden Ausbildung noch alles erreichen hätte können, was ich so aber nie ernsthaft unter Beweis stellen musste… So gesehen war die Absage an ein Cello-Studium auch mit einem persönlichen Gewinn verbunden.
Meine Begeisterung für die klassische Musik aktivierte aber auch Phantasien, die für den beruflichen Werdegang hätten wichtig werden können. Ich verspürte einen großen Drang, auch andere Menschen, Musikunerfahrene wie auch „verkopfte“ oder nur technisch orientierte Angehörige an ein möglichst unmittelbares Erleben von Musik heranzuführen– in der Annahme, dass sie dadurch eine Bereicherung für ihr Leben erfahren würden. Mir war klar, dass hierfür außer meiner Begeisterung auch Wissen und Kompetenz notwendig sein würde.
CH: Und in dieser Phase der Orientierung haben Sie Musikwissenschaft als Nebenfach am musikwissenschaftlichen Institut studiert?
BS: Ja, die Idee, in der Musikwissenschaft eine berufliche Erfüllung zu finden, faszinierte mich zunehmend. Natürlich musste man sich einigermaßen in Harmonielehre auskennen und im Klavierspiel geübt sein, was bei mir nicht so der Fall war. Es gab zwar keine Aufnahmeprüfung, aber es gab vorab eine Beratung beim damaligen Priv.-Doz. Dr. Hermann Beck, der mir gegenüber das etwas heruntergespielt hat. Aber das 1959 begonnene Studium der Musikwissenschaft in der damaligen Form enttäuschte mich dann doch im Laufe der Zeit immer mehr. Immerhin hat mein dreisemestriges Studium mir die Augen geöffnet, dass sich meine angestrebte Kompetenz gar nicht so sehr auf die klassischen musikwissenschaftlichen Inhalte beziehen wollte. Es ging mir mehr darum, Kompetenz zu erwerben im kulturpädagogischen und unspezifischen therapeutischen Bereich. Hierfür aber konnte ich Anregungen aus der damaligen Musikwissenschaft nicht erhoffen. Inhalte eines solchen Zieles und die Wege dorthin mussten erst geschaffen werden. Aber dieses Studium war dennoch wichtig, da es meinen Ideen im Laufe der Zeit zu mehr Klarheit verhalf.
Anfangs waren meine Aktivitäten freilich noch nicht so konsequent durchdacht: Ich bemühte mich zum Beispiel Einfluss auf das Musikprogramm der Jungen Theatergemeinde und des Rundfunks zu nehmen: Um junge Menschen zu erreichen, dürfe die hierbei angebotene Musik nicht überfordern und abschrecken. Statt Brahms-Sinfonien erst mal Tschaikowskys Nussknacker-Suite. Statt Wagners Parsifal erst mal PorgyandBess. Einführungen geben in Werkgeschichte, Zeitgeist, Komponistenbiographie, Verhältnis der Musik zu anderen Künsten für Motivierte usw. Hierzu bedürfte es freilich auch musikwissenschaftlichen Wissens, aber die grundlegende Absicht war auf eine Neuorientierung des Lebens ausgerichtet, die im Bereich der Psychologie vielleicht eher anzusiedeln sei. Ich dachte vielleicht mal Kulturpsychologe bei einer großen Firma zu werden, um daselbst die Mitarbeiter professionell zur Musik (und Kultur überhaupt) hinzuführen. Wichtig war, dass die Musik, die ich vermitteln wollte, immer in der Beziehung zur Klassik (und Folklore als einem ihrer Fundamente) stehen würde, auch wenn deren Fangarme in andere Musikgattungen hineinreichten. Deshalb versuchte ich auch, in der langjährigen Phase, in der sich klassische Musik im Gewand von Rock, Pop und Jazz einer großen Beliebtheit erfreute, in kritischer Weise zu unterscheiden, ob es sich hierbei im Einzelnen um eine bloße Geschäftemacherei oder um eine Verballhornung klassischer Musik handelte oder um eine kreative Weiterentwicklung, die den ernsten Ansatz nicht in Frage stellte. Meine Grenzziehungen waren stets sehr scharf: Waren die von Benny Goodmans Orchester gespielte Jazz-Fuge Bach goes to town oder selbst Helmut Zacharias‘ Drei-Minuten-Stück Barock and Roll für mich kleine Meisterwerke, da hier Swing und Barock gekonnt zu einer neuen Einheit zusammenfanden, so fand ich Jacques Loussiers Play Bach nur an wenigen Stellen wirklich integrativ: eher sind es Jazzimprovisationen zu Themen von Bach. Viel mehr schien mir das dem hierzulande recht unbekannt gebliebenen französischen Komponisten Saint Preux gelungen zu sein, der die verschiedenen Genres verschmelzen lässt.
Ich möchte betonen, dass das kurze Studium der Musikwissenschaft mir bei meiner Sinnfindung durch Abkehr indirekt große Dienste geleistet hat, indem ich zur Psychologie überwechselte, von der ich für mein Anliegen mehr Anregung erhoffte. Andererseits habe ich mich von der breiteren Basis der Psychologie aus auch wieder musikwissenschaftlichen Themen zugewandt, wovon ich gleich noch kurz berichten kann. Aber Sie hatten noch eine andere Frage?
CH: Um eine genauere Vorstellung von den damaligen Bedingungen zu bekommen: Wie viele Studenten waren mit Ihnen am musikwissenschaftlichen Institut tätig?
BS: Ganz wenige – und ich war mit Abstand der Jüngste. Es herrschte eher eine Seminaratmosphäre. Es wurden zwar normale Vorlesungen gehalten, die auch für Studierende anderer Fachrichtungen offen waren (Studium Generale), aber bei Referaten in den Seminaren haben wir auch miteinander diskutiert. Doch gerade hier schien mir die puristische Haltung der angehenden Musikwissenschaftler samt ihren Dozenten Grenzen zu setzen. Als ich in einem gewissenhaft vorbereiteten und recht umfassenden Referat über die Flöte – ausgehend von der Steinzeit und gespickt mit mühsam erworbenen Tonbeispielen des Flötenklangs seit dem Mittelalter – dazu überging, die veränderte Verwendung der Flöte in der Romantik zu beschreiben, um das Referat danach mit einem Tonbeispiel zu beenden, das belegen sollte, dass es für dieses uralte Instrument sogar Verwendungsmöglichkeiten im Jazz gebe, da zeigten sich die Anwesenden geradezu brüskiert und ließen die Musikdemonstration jäh durch Knopfdruck auf meinem Tonbandgerät abbrechen: „Das kennen wir jetzt ja schon.“ Das hat mich nicht sehr zum Weiterstudieren animiert! In einer persönlichen Nachbesprechung erfuhr ich dann auch, dass die Wissenschaft für Herrn Dr. Beck gerade noch Mozart zum Thema machen könne. Die nachfolgende Musik sei noch nicht „abgestanden“ genug und würde noch zu sehr einem Veränderungsprozess unterliegen, als dass man sie wissenschaftlich betrachten könne.
CH: Es ging am Institut also nur um die Musik vom Mittelalter bis zum Barock?
BS: Ja, der Fokus lag auf alter, besonders auf sehr alter Musik. Notationen und deren Übertragungen in das heutige Notensystem war ein großer Bereich, daneben auch Instrumentenkunde und Harmonielehre. Für andere, mich selbst mehr interessierende Fragestellungen war da kein Platz. Vielleicht wäre ich der Musikwissenschaft sonst treu geblieben, parallel zu meinem Gasthörerstatus am Staatskonservatorium. Doch so hat mich die Psychologie voll erfasst, wenngleich ich mir für meine Diplomarbeit doch ein Thema aus der – nunmehr erweiterten – Musikwissenschaft wählte. Das war ein seltenes Thema und ich wusste auch, dass mir in jenem Bereich niemand so schnell reinreden konnte. Aufgrund der Beobachtung, dass er gestern beim Anhören eines Liedes von Zarah Leander eine Gänsehaut bekommen habe und dadurch zur Erkenntnis gelangt sei, dass Musik tatsächlich auch auf den Körper wirkt, bekam ich 1961 vom damaligen Vorstand des Psychologischen Instituts Prof. Wilhelm Arnold grünes Licht zu einer ungestörten Durchführung meiner musikorientierten Arbeit. Bei den Musikfachleuten am damaligen Institut für Musikwissenschaft hätte ich diese Arbeit wohl kaum durchführen dürfen.
CH: Worum ging es dabei?
BS: Das Thema lautete: „Empirische Untersuchungen emotionaler Wirkungen verschiedener Tempi bei rhythmisch betonter Musik.“[7] Meine Ausgangsfrage war, ob unterschiedliches Tempo von Musik unterschiedliche Grade an Emotionen im Hinblick auf physiologisch messbare und in der Selbstwahrnehmung erkennbare Erregung bzw. Aktivierung hervorrufen könne, genauer: Ob es das einfache und regelmäßige Klopfen eines Rhythmus‘, den Trommelschlägen einfacher Marschmusik ähnlich, oder die Verbindung des Rhythmus‘ mit einem Harmonieschema, wie man es etwa aus dem Jazz vom Walking Bass her kennt, oder erst die zusätzlichen Melodien und „breaks“ sind, die eine Reaktion auslösen.
CH: Wie sind Sie die Fragestellung methodisch angegangen?
BS: Als mein Vater verreist war, habe ich mir die passende Musik „besorgt“. Ich dachte zuerst an Barockmusik, in der es ja so schöne unterschiedliche messbare Tempi zum Vergleichen gibt. Jedoch musste aus methodischen Gründen eine Musik zur Anwendung kommen, deren Variablen abgesehen vom Tempo möglichst konstant gehalten werden konnten. Ich entschied mich also dafür, mir meine eigene Musik nach diesen Kriterien zu „konstruieren“, da in der Literatur hierfür nichts Geeignetes vorlag. Ich tat dies mit Hilfe einer eigenen fünfköpfigen Band, die in mein Vorhaben eingeweiht war und nach bestimmten Kriterien entwickelte Improvisationen im Stile der Swing-Musik erschuf. Mein Vater wäre aus allen Wolken gefallen, hätte er das mitbekommen: In seinem Arbeitszimmer erklangen Xylofon, Klarinette, Gitarre, Bass und Schlagzeug. Zu Hause gab es ja keine Musik dieser Richtung.
Nach einer richtig schönen wissenschaftlichen Untersuchung u.a. mit Messungen von Hautwiderstand, Atemfrequenz, Pulsfrequenz sowie mit Befragungen kam ich schließlich zu dem Ergebnis, dass Wirkungen bei den drei unterschiedlichen Varianten im Prinzip schon in den verschiedenen Geschwindigkeiten beim einfachem Klopfen eines Rhythmus‘ erkennbar sind. Die Wirkung des reinen Trommelrhythmus bei den vorgegebenen unterschiedlichen Tempi ist fast genauso stark ausgeprägt als wie bei der Darbietung von harmonisierten Trommelschlägen bzw. der vollen Ensemblemusik. Die Wirkung steigt im Übrigen gleichermaßen mit dem Grad der Geschwindigkeit kontinuierlich an. Sie lässt bei hohen Geschwindigkeiten jedoch wieder nach, wahrscheinlich weil die rhythmischen Lautimpulse, die ja physikalisch gesehen die Geschwindigkeit bestimmen, dann einer anderen Wahrnehmung unterliegen: Sie werden als zusammenhängend empfunden, womit wir diese Musik von der Impulsgebung her gesehen als langsamer erleben.
CH: Swing war bei Ihnen zuhause also nicht zu hören. Welche Rolle spielte Unterhaltungsmusik und Jazz in Ihrer Jugendzeit und in den 1960ern?
BS: Der Zugang zur Unterhaltungsmusik und zum Jazz war für mich ein völlig verschiedener. Unter Unterhaltungsmusik waren damals vor allem jene etwas schwülstigen Kompositionen für großes Orchester zu verstehen, die z.B. im Bayerischen Rundfunk viel Platz einnahmen und vor allem mit Namen wie Kurt Graunke, Ulrich Sommerlatte, Jan Koetsier, Ernst Fischer und anderen verbunden waren. Wegen ihres geringeren Anspruchs, ihrer relativen Unbekanntheit und den damit fehlenden assoziativen Verknüpfungen bei gleichzeitigem Bezug zur Klassik eignete sie sich ganz gut als Hintergrundmusik für Schulaufgaben etc. Als eine Art „Classic light“ forderten sie kaum intensive Aufmerksamkeit und den Respekt vor den „großen Werken“, und dennoch befriedigten sie Ansprüche an eine gehobene Musik. Endlich schien mir Hintergrundmusik akzeptabel. Die Einbeziehung des Schlagers in die Begrifflichkeit der Unterhaltungsmusik ist eher neueren Ursprungs. Schlager waren ja harmlose musikalische Schöpfungen, von denen sich erstaunlicherweise viele in meinem Gedächtnis bewahrt haben, obwohl ich sicherlich in ihnen nicht meinen Lebensinhalt sah. Aber ihre Originalität und die Einbeziehung in das Alltagsleben räumten dieser Musikgattung doch einen Raum ein.
Die Liebe zum Jazz hielt sich in Grenzen, wenngleich er meistens mit einem intellektuelleren Anspruch verknüpft ist. Als Stilmittel innerhalb neuerer klassischer Musik ist für mich der Jazz dagegen eine willkommene Anregung und Erweiterung, so dass ich mich für viele Kompositionen von George Gershwin, Bernd Alois Zimmermann, Friedrich Gulda, Bohuslav Martinu, Francis Poulenc und anderen durchaus begeistern kann.
Mein persönlicher Beitrag zur Unterhaltungsmusik in den 1960er Jahren bestand darin, dass ich an zahllosen Sonntagnachmittagen im nahen Rottendorfer Waldcafé in einem Klaviertrio aktiv war. Wir spielten Potpourris aus Opern und Operetten, Märsche, Walzer, Tangos, Ouvertüren. Ich erwarb einige Routine im Umgang mit dieser Art Musik. Mit meinem Versuch, meine erworbenen Fähigkeiten als Aushilfscellist für einen Tag im Kurorchester eines renommierten Staatsbades unter Beweis zu stellen, wuchs mein Respekt vor der leichten Musik, war sie in Wirklichkeit doch sehr schwer- wenn man sie wirklich professionell spielen will. Diesen Respekt zolle ich inzwischen allen Menschen, die sich um musikalischen Ausdruck bemühen, ganz gleich welchem Genre ihre Musik angehört.
CH: Welche Eindrücke haben Sie vom Würzburger Musikleben in den 1960ern behalten? Waren Sie regelmäßiger Gast des Mozartfests?
BS: Regelmäßiger Gast beim Mozartfest war ich nicht, denn es war teuer. Aber der Besuch einer Nachtmusik war damals fast etwas Selbstverständliches. Überhaupt erwachte in mir schon früh das Interesse an kulturellen Veranstaltungen. Gerade die Opernmusik hat mich sehr begeistert. Mein erster Opernbesuch im damaligen Theater am Wittelsbacher Platz galt dem Freischütz. Der Eindruck war vergleichbar mit dem des ersten Blicks auf die Alpen: großartig! Eine kritische Erörterung der stimmlichen oder schauspielerischen Leistungen war mir angesichts des überwältigenden Gesamteindrucks völlig fremd. Die Faszination überdeckte alles. Die Vorspielabende am Konservatorium waren auch immer sehr interessant und auch gut besucht. Schrecklich waren hingegen die von der Jungen Theatergemeinde angeborenen Veranstaltungen. Die allgemeine Unruhe im Theatersaal während der Veranstaltungen mit lauter Kommunikation, Unruhe, Colaflaschen-Fußballspielen unter den Sitzen einschließlich begeisterter „Tor!“- Rufe war für mich wenig kulturfördernd. In Nathan der Weise wurde die Vorstellung einmal unterbrochen. Nach der dringenden Bitte des berühmten 8ojährigen Schauspielers Karl Bernhard an das junge Publikum, bei Desinteresse den Theatersaal doch einfach zu verlassen, der aber niemand nachkam, ging das chaotische Spektakel unvermindert weiter…
CH: Kam Ihnen das Würzburger Musikleben manchmal etwas provinziell vor?
BS: Nein, für mich war das alles neu. Wenn die Leute sagten, hier in Würzburg sei nichts los, habe ich das Kulturprogramm immer verteidigt. Amerikahaus, Mozartschule, Theater, diverse Orchester, Kammermusik, Orgelkonzerte – immer gab es irgendwelche Angebote. Die Qualität? Musizierende Menschen jeden Alters, die sich ernsthaft bemühen, machen immer schöne Musik. Und das habe ich von meinem Vater übernommen: Auch aus einem kratzenden „Volksempfänger“ heraus kann Bach oder Beethoven oder auch Hindemith zu einem erfüllenden Erlebniswerden.
Redaktion: Marc Deml und Christoph Henzel
Fußnoten:
[1] Sie hatte von 1947-1954 am Staatskonservatorium der Musik Violoncello studiert.
[2] Irmtraut Schmidt studierte von 1952-1960 am Staatskonservatorium der Musik.
[3] Sonate D-Dur, gespielt am 8. Juni 1955 in einer Vorspielstunde im Gymnasium.
[4] 1852 als Musikdirektor. Gemeint sind die 3 Stücke aus der Modern(en) Suite für Violoncello und Klavier op. 122, vorgetragen am 20. Februar 1957 in einer internen Vorspielstunde, und das Grand Duo, gespielt in einem Klassenabend am 26. März 1958.
[5] DieWinterlandschaft für Violoncello und Klavier, vorgetragen am 2. Juli 1956 bei einem Schülerkonzert im Gartensaal der Residenz.
[6] Am 4. Mai 1960, begleitet von einem Streichquintett, außerdem am 2. Mai 1961 in der American High School.
[7] Spätere Kurzfassung in: Musikpsychologie. Empirische Forschungen – Ästhetische Experimente, hg. v. Klaus-Ernst Behne u.a., Bd. 2, Wilhelmshaven 1985, S. 140-159.