Erinnerung an den Würzburger Pianisten Josef Stahl

Anlässlich der Verlegung eines Stolpersteins für den ehemaligen Würzburger Musikstudenten Josef Stahl am 20. September 2015 (Wiesenweg Nr. 27, siehe Abb. 1) legte der Arbeitskreis Stolpersteine Würzburg, Recherchegruppe „Euthanasie“ die Ergebnisse seiner biographischen Recherche vor. [1] Sie machten damit auf ein vergessenes Opfer des Nationalsozialismus aus dem Kreis der ehemaligen Studierenden des Staatskonservatoriums aufmerksam. Im Folgenden werden die Ergebnisse in abgekürzter Form wiedergegeben und um detaillierte Angaben zum Musikstudium in Würzburg und Berlin ergänzt. [2]

1 Biographie

Josef Stahl wird am 23.03.1910 als 3. Kind des Schneidermeisters Josef Stahl und seiner Frau Maria geboren. Seine Schwester stirbt, die beiden Brüder Artur Stahl (geb. am 11.09.1906) und Walter Stahl (geb. am 31.05.1913) überleben. Josef entwickelt schon sehr früh eine Neigung zur Musik und bekommt mit sechs Jahren den ersten Unterricht. In der Oberrealschule, die er ab 1921 vier Jahre lang besucht, ist er ein mittelmäßiger Schüler. Ab 1922 studiert er am Staatskonservatorium der Musik Würzburg Klavier (bei Prof. Karl Wyrott), 1926 bis 1929 auch Violine, außerdem 1924/25 Fagott. Bei verschiedenen Schülerkonzerten tritt er solistisch auf, wobei die Beschränkung auf das klassisch-romantische Repertoire in der damaligen Zeit am Konservatorium typisch ist:

8.3.1925 Ludwig v. Beethoven, 6 Variationen G-Dur u. Felix Mendelssohn Bartholdy, Capriccio e-Moll op. 10/2

18.12.1925 Joseph Haydn, Klavierkonzert D-Dur

25.4.1926 Felix Mendelssohn Bartholdy, Rondo capriccioso op. 14

1.12.1926 Carl Maria v. Weber, Klavierkonzert Es-Dur op. 33

15.3.1928 Franz Schubert/Franz Liszt, Wandererfantasie für Klavier u. Orchester

27.1.1929 Max Reger, 3 Stücke aus: Aus meinem Tagebuch op. 82, Bd. 3

11.7.1929 Ludwig v. Beethoven, Klavierkonzert Nr. 5 Es-Dur, 2. u. 3. Satz

Auch als Kammermusikpartner und Klavierbegleiter betätigt er sich in den Schülerkonzerten.

Von Mitte April bis Ende September 1928 arbeitete er als Pianist in der Kurkapelle in Bad Ragaz (Schweiz) und kehrt anschließend nach Würzburg zurück. Noch vor seiner Reifeprüfung im Juli 1929 erleidet er einen Nervenzusammenbruch, von dem er sich aber nach drei bis vier Wochen wieder erholt. Wird er zuvor als beliebt, freundlich und leutselig beschrieben, so zeigt er sich danach als sehr ernst, aber auch sehr ehrgeizig. Nachdem seine Mutter am 4.Oktober 1929 gestorben ist, verlässt er am 23. Oktober Würzburg, um an der Musikhochschule in Berlin weiter zu studieren. In der Zeit bis 1932 gibt er Konzerte in Frankfurt, Stuttgart, Nürnberg und Königswusterhausen, die nach Angabe der Familie teilweise sogar im Rundfunk übertragen wurden. Belegt ist die Übertragung eines einstündigen Konzerts am 25. August 1932, bei der Josef Stahl Kompositionen von Franz Schubert und Robert Schumann spielte (siehe Abb. 2). Im September 1932 holt der Vater ihn nach beunruhigenden Telefonaten nach Hause. Josef entwickelt Wahnvorstellungen und dem Vater bleibt nichts anderes übrig, als ihn am 10.12.1932 in die Psychiatrische Universitätsklinik Würzburg zu bringen. Da sich sein Zustand nicht bessert, verlegt man ihn am 22.06.1933 in die Privatirrenanstalt Herzoghöhe in Bayreuth. Dort verschlechtert sich sein Gesundheitszustand weiter. So wird er auf Grund eines Gutachtens des Bezirksarztes von Bayreuth, der die weitere Einweisung in die geschlossene Anstalt für nötig hält, am 30.07.1933 in die Heil-und Pflegeanstalt Werneck überführt. Auf dieses Gutachten stützt sich auch der Beschluss des Würzburger Stadtrates ihn wegen Gemeingefährlichkeit in Werneck einzuweisen. Eine Beschwerde des Vaters dagegen wird verworfen, da der Kranke sich und andere gefährde. Der Vater zieht 1933 nach Frankfurt um. In den folgenden Jahren fragt er immer wieder nach dem Ergehen seines Sohnes und möchte ihn besuchen. Ab 1935 kann er die Kosten nicht mehr übernehmen und der Landesfürsorgeverband Unterfranken kommt jetzt dafür auf. Im Zuge der Auflösung der Heil- und Pflegeanstalt Werneck wird Josef Stahl am 05.10.1940 in die Heil- und Pflegeanstalt Lohr gebracht. Drei Tage später fragt der Vater mit einer letzten Karte in Werneck nach seinem Verbleib, da ein Päckchen zurückgekommen sei, und wird von dort nach Lohr verwiesen. Von Lohr kommt Josef Stahl am 13.11.1940 mit einem Transport von etwa 100 Patienten in die Zwischenanstalt Weinsberg/Baden-Württemberg. Von hier aus wird er am 10.12.1940 im Rahmen der Aktion T4, der systematischen Tötung sog. unwerten Lebens, als „ungeheilt entlassen“ in die Tötungsanstalt Grafeneck gebracht und vermutlich noch an diesem Tag ermordet.

Quellen: Archiv des Bezirkskrankenhauses Lohr; Staatsarchiv Ludwigsburg F 235, Bü 830; Stadtarchiv Würzburg, Meldebögen 1850-1920; Adressbücher; Jahresberichte des Staatskonservatoriums Würzburg 1923-1929; 14ter und 15ter Jahres-Bericht über die Bayerische Kreis-Oberrealschule zu Würzburg

Anmerkung: Der in der Krankenakte überlieferte Zeitungsausschnitt trägt keine Jahreszahl. Sie wurde aus der Tatsache geschlossen, dass 1932 der 27. August auf einen Donnerstag fiel. Das hier abgedruckte Porträtfoto ist das einzige, das von Josef Stahl überliefert ist.

[1] Vgl. https://stolpersteine-wuerzburg.de/opfer/?q=528 (06.5.2021).

[2] Ich danke Inge Kaesemann vom Arbeitskreis für die ausgezeichnete Kooperation und Antje Kalcher für die Bereitstellung der Dokumente aus dem Archiv der UdK Berlin sowie ihre bereitwilligen Auskünfte.

2 Kommentierte Dokumente aus Berlin

Aus dem Archiv der Universität der Künste Berlin sind einige Dokumente erhalten, die über einzelne Facetten der Persönlichkeit (seine „Nervosität“) sowie seine schwierigen ökonomischen Lebensbedingungen in der Reichshauptstadt Auskunft geben. Das erste Schreiben wurde kurz nach seiner Ankunft in Berlin und der Aufnahme des Studiums in der Klasse von Waldemar Lütschg aufgesetzt:

„An die Direktion der Staatlichen akademischen Hochschule für Musik

Ich bitte die verehrliche Direktion um Genehmigung meines Gesuches, betreffs Kaffeehausmusizierens auf der Geige. Ich kann von meinen Eltern keine monatliche Unterstützung bekommen, da dieselben krank und völlig erwerbsunfähig sind und ich somit auf mich ganz allein angewiesen bin. Ich möchte gerne auf dem Klavier etwas erreichen und kann nur durch irgendeine Verdienstmöglichkeit meine Studien an der Hochschule beginnen.

Berlin, den 31.Oktober 1929
Joseph Stahl“

 

Um eine Stellungnahme gebeten, befürwortete sein Lehrer das Gesuch. Ein Jahr später reichte Stahl eine ähnlich lautende Bitte ein:

 

„An die verehrliche Direktion der Staatlichen akademischen Hochschule für Musik, Berlin

Gesuch betreffs Genehmigung zum Musizieren gegen Entschädigung

 

Berlin, den 28.Okt. 1930.

Ich erlaube mir an die verehrliche Direktion die Bitte zu richten, daß ich Begleiten sowie auch daß ich Unterricht gegen Bezahlung erteilen darf. Die wirtschaftliche Notlage meines Vaters erlaubt es nicht mehr, mein Studium bezahlen zu können und so bin ich gezwungen, Geld zu verdienen. Ich bitte die verehrliche Direktion gütigst um Genehmigung meines Gesuches.

ich bin mit vorzüglicher Hochachtung!
Joseph Stahl“

 

Waldemar Lütschg kommentierte dies wie folgt: „Keinerlei Bedenken!“

 

Am 25. April 1931 schrieb Lütschg, der um eine Stellungnahme zu Stahls Gesuch um eine Freistelle gebeten worden war, an den stellvertretenden Direktor Georg Schünemann:

 

„Sehr geehrter Herr Professor!

Bevor ich zum Gesuch um eine Freistelle des Studierenden Joseph Stahl Stellung nehme, bitte ich um freundliche Gewährung einer kurzen Unterredung im Beisein des Antragstellers. –

Mit bestem Gruß
Ihr ergebener Waldemar Lütschg“

 

Ergebnis der Unterredung, zu der zusätzlich Professor Richard Rössler hinzugezogen wurde, war der Wechsel Stahls in die Klasse Rösslers. Die Konstitution Stahls spielte hierbei eine Rolle, was aus einem Schreiben Schünemanns an Hans Mersmann, den Leiter der Deutschlandabteilung der Deutschen Welle, vom 7. Mai 1932 hervorgeht:

 

„Sehr verehrter Herr Professor!

Herzlichen Dank für Ihren freundlichen Brief. Eine Zusammenarbeit mit der Hochschule würde ich sehr begrüssen, und ich bin gerne bereit, Ihnen in jedem Einzelfalle Gutachten zu geben oder auch Vorschläge zu unterbreiten. Der von Ihnen genannte Joseph Stahl studiert bei Herrn Prof. Rössler und ist ein sehr tüchtiger Musiker, den Sie durchaus heranziehen können. Er ist sehr bedürftig, körperlich schwach und auch nervös. Infolgedessen hatte er früher schon ein paar Zusammenstösse mit Herrn Prof. Lütschg. Jedenfalls kommt er für ein Vorspielen oder für Illustrationen oder dergleichen durchaus in Frage.

Mit besten Grüssen
Ihr ergebener Sch.“

 

Über die Beschreibung des Zustands Stahls hinaus findet sich in dem Schreiben ein Hinweis darauf, dass es tatsächlich zu Rundfunkaufnahmen gekommen ist. Offensichtlich versuchte Mersmann, Nachwuchsmusiker für seine Arbeit für das Radio, u.a. wohl auch für Hörspiele, zu gewinnen.

Nähere Aufschlüsse über Stahls ökonomische Verhältnisse in dieser Zeit gibt ein von ihm ausgefülltes Antragsformular für Unterstützungsleistungen der Hochschule im Sommersemester 1932, eingegangen am 30. April 1932. Stahl gibt an, dass sein Vater monatliche Einkünfte in Höhe von „ungefähr 100 M“ habe, „die für Schulden wieder sofort ausgegeben werden müssen“. Sein eigenes monatliches Einkommen aus Nebenerwerb (Klavierbegleitung, Klavierunterricht)  beziffert er mit „ungef. 20 M, manchmal weniger“, wobei aber die Zimmermiete – er wohnte selbstverständlich in Untermiete – 39 Mark betrug. Schließlich führt er an, dass er bei seinem Vater Schulden in Höhe von „ungefähr 2000 M wenigstens“ habe. Auch wenn Stahls Angaben kein schlüssiges Bild ergeben und auch im Hinblick auf ihren Zweck dramatisiert sein mögen, geben sie doch im Zusammenhang mit den anderen Dokumenten aus dem Hochschularchiv eine Ahnung von den drückenden finanziellen Verhältnissen, unter denen Stahl studierte. Ein Hoffnungsschimmer dürfte hier das Beethoven-Stipendium der Stadt Berlin gewesen sein, das er kurz vor Abgabe des Antrags erhalten hatte. Es brachte ihm 500 Mark für ein Jahr ein.

Das letzte Schreiben Stahls stammt aus Würzburg. Es ist an Georg Schünemann gerichtet, der 1932 Nachfolger Franz Schrekers als Direktor der Musikhochschule in Berlin geworden war:

 

„Sehr geehrter Herr Direktor!

Für die große Hilfe, die mir Herr Direktor zukommen ließen, erlaube ich mir herzlichst zu danken und bitte den Dank auch von meinen Eltern entgegennehmen zu wollen. Da mein Nervenzusammenbruch erheblich ist, muss ich mich nach ärztlicher Anordnung sehr schonen und ich hoffe bestimmt, im nächsten Jahr unter Ihrer sehr bewährten Leitung die Reifeprüfung machen zu dürfen.

Sollte es Herrn Direktor möglich sein, das mir gewährte Beethovenstipendium auch während meiner Krankheit zukommen zu lassen, dann wären meine Eltern und ich großer Sorge enthoben, die Ihnen der liebe Gott bestimmt vergelten wird.

In größter Dankbarkeit
Ihr sehr ergebener Schüler
Joseph Stahl,

Zt. Würzburg-Heidingsfeld, Wiesenweg 27.“

 

Somit handelt auch dieses Dokument noch einmal von den zwei Dingen, die das Leben des angehenden Pianisten beherrschten: die labile Gesundheit, die Armut und die Hoffnung auf eine Karriere als Künstler.

 

Quelle: Universität der Künste Berlin, Universitätsarchiv, Bestand 1, Nr. 598 [1929-1931] u. Nr. 599 [1932]

 

Christoph Henzel

 

Anmerkung: Der in der Krankenakte überlieferte Zeitungsausschnitt trägt keine Jahreszahl. Sie wurde aus der Tatsache geschlossen, dass 1932 der 27. August auf einen Donnerstag fiel. Das hier abgedruckte Porträtfoto ist das einzige, das von Josef Stahl überliefert ist.