Dr. Roland Häfner erinnert sich an Lehren, Lernen und Leben in der Villa Völk
Reminiszenzen
"Wenn auch nicht zur Stunde Null der Wiedereröffnung des Bayerischen Staatskonservatoriums der Musik nach seiner vollständigen Zerstörung am 16. März 1945, aber so ungefähr zur Stunde Null-Komma-Neun hatte ich die Ehre, meine Tätigkeit am Institut im Herbst 1948 aufzunehmen. Von außen her gesehen sah das so aus: zwei Unterrichtsräume der Oberrealschule am Sanderring mit einem, später einem zweiten Leihklavier für den Gruppenunterricht, aber ohne Beheizung und Beleuchtung standen zur Verfügung. Dazu kam dann später ein dritter Raum mit drei großen Fenstern ohne Rahmen und Glas und auch ohne Fußboden. Es ging sich ganz hübsch weich auf dem Sand des Fehlbodens. Direktion und Sekretariat hausten im Westflügel der Veste Marienberg. Einzelunterricht wurde in den Wohnungen der Lehrkräfte gegeben. Das war sozusagen das Sprungbrett für das Wiedererstehen der traditionsreichen Musikausbildungsstätte.
Da das Gedächtnis des Menschen mit der schönen Gabe ausgestattet ist, die Erinnerungen, auch wo sie im Schatten standen, zu verklären, so vermag ich an diese Zeit durchaus mit einem gewissen Vergnügen an überstandene, nun sagen wir einmal Unbequemlichkeiten, zu denken. Am Anfang gab es da z.B. Übernachtungen in einer Baracke am Bahnhof, sozusagen im Etappenstil. Da brachte ich aus München im Rucksack Noten, Bücher, Partituren, Schallplatten und auch meinen Plattenspieler – zum Aufziehen natürlich – mit. Da lebte man damals noch in der Zeit der Fleisch-, Brot-, und Fettmarken, brauchte man noch Kerzen für den Fall von Stromabschaltungen. Aber man nahm das alles mit Gleichmut hin.
Der Wille, nun an die Arbeit zu gehen, stand, sowohl bei den Lehrern wie bei den Studierenden im Vordergrund. Dass unter diesen Umständen – nach den, wie es so schön heißt, „sich lang hinziehenden Verhandlungen“ – der Einzug in ein eigenes Haus, die Villa Völk, am 4.November in einer internen, am 16. Dezember in einer öffentlichen Feier, uns allen wie ein Geschenk des Schicksals vorkommen musste, da mag verständlich sein, zumal inmitten einer schwer zerstörten Stadt. Wir lebten daher auch zunächst in einer Art von Euphorie: ein Haus in schönster Lage in einem Park über dem Main, eigentlich einer Villa, als Privatsenatorium erbaut, mit 16 Unterrichtsräumen, mit einer noblen, holzgetäfelten Halle, mit Kamin, großem Lüster und einer geschnitzten Treppe. Ein Haus, in dem nun alles vereinigt war: Unterricht, Direktion, Verwaltung, Bibliothek, in dem der Direktor, der Offiziant, die Sekretärin noch Unterschlupf fanden, und für die ersten Zeiten auch der eine oder andere Kollege auf einem eisernen Feldbett mit Strohsack. Das alles ist freilich heute nicht mehr recht vorstellbar.
Nun, ich sehe noch in der Erinnerung an diesen 16. Dezember 1948, dem Geburtstag Ludwig van Beethovens, bei strahlender Sonne in der sogenannten Aula den damaligen Staatssekretär beim Kultusministerium Dr. Dieter Sattler zu uns sprechen: unbeamtenhaft, völlig frei, den Geburtstag Beethovens zum Kernpunkt seiner Gedanken über die Humanitas, über den Primat des Geistes und der Kunst machend. Wohl keiner der Anwesenden vermochte sich diesem Appell zu verschließen, der im Streichquartett op. 18/1 seine Spiegelung fand.
Die eben erwähnte Euphorie wirkte sich offenbar sehr günstig auf die Zusammenarbeit aller aus und – sie hielt doch ziemlich lange vor. Man braucht nur in den Jahresberichten dieser Zeit zu blättern, um dies, allein an den vielen Konzerten von Lehrkräften, aber auch den zahlreichen öffentlichen Veranstaltungen mit Studierenden, abzulesen. Gewiss, um diese Zeit war das Angebot an Konzerten gemessen an heute noch klein, das Bedürfnis nach guter Musik dagegen war groß. Darüber hinaus hatte das Staatskonservatorium in der doch abgelegenen Villa Völk Grund genug, sich den Würzburgern ins Gedächtnis zu rufen. Hörte man doch oft genug, man wisse gar nicht, wo das Konservatorium jetzt sei.
Anlässe zu Veranstaltungen boten sich genug. Da gab es Gedenkstunden – mit Gedenkreden – für Bach, für Chopin, für Schumann, für Pfitzner, für Hindemith, für Hermann Zilcher, für Würzburger Komponisten. Diese Konzerte mussten zum größten Teil in der Stadt stattfinden, da die Villa Völk dafür kaum Platz bot. So wanderte man reihum zu den wenigen dazu geeigneten Sälen, Raumen und Kirchen.
Wenn ich mir das alles in die Erinnerung zurückrufe, dann war das wohl nur möglich aus einem Geist heraus, der die Menschen nach einem verlorenen Krieg befähigt, mit äußeren Schwierigkeiten und Hindernissen leichter fertig zu werden als in saturierten Zeiten. 75 % der Studierenden – sie tragen bekanntlich den schönen amtlichen Namen Fahrschüler – sie kamen von auswärts. Für die gab es zum Teil recht lange Anfahrtszeiten. Dazu kam der weite Weg vom Bahnhof zur Villa Völk. Die Linie 3 gab es damals gar nicht, da die Löwenbrücke nach der Sprengung eines Jochs nur als Notbrücke benutzbar war. So musste man sich entschließen, ob man lieber gleich zu Fuß – immer ein Weg von beinahe dreiviertel Stunden – zur Villa Völk pilgerte, oder mit der Linie 1 zur Sanderau fuhr, dort mit einer gemütlichen Fähre über den Main setzte und dann den steilen Betpfad hinaufmarschierte. Zum Essen ging man vielfach in die „Goga“ (für Nichtkenner „Goldene Gans“) zu einem Einheitsmittagessen zu einer DM., oder auch zum Schützenhof, wenn die Zeit dazu reichte. Aber – wie gesagt – man verlor über diese Dinge nicht viel Worte, in guter Gemeinschaft und Kameradschaft von Lehrern und Studierenden.
Wie spielte sich die Arbeit, der Unterricht in dem neuen Hause ab? Nun, man musste sich einrichten, denn dass jeder Lehrer sein eigenes Zimmer gehabt hätte, daran war nicht zu denken. Wohl versuchte man „Teilung der Gewalten“, indem man die lauten Instrumente entweder unter dem Dach oder im Keller unterbrachte. Dort – im Keller – fand auch die Übungsorgel ihre Heimstätte. In einem gekachelten Badezimmer, dessen Badewanne mit einem Brett abgedeckt als Tisch diente, pflegten sich Oboe und Klarinette, aber auch die Harfe zu betätigen. Ein rundes Turmzimmer, geeignet für ein Burgfräulein, nahm die elegisch-epische Bratsche, ein aus einem Balkon entstandener Raum den Kontrabass auf. Nicht zu vergessen ist die Bibliothek. Untergebracht war sie in einer Art Trockenspeicher, ohne jedes Tageslicht, auch ohne Heizung. Noten und Bücher, sowie Holzblasinstrumente waren in Schränken untergebracht, wie man sie in Kasernen finden mochte. Für die übrigen Instrumente hatte man von dem Bibliotheksraum einen Bretterverschlag abgeteilt, in dem Streichinstrumente, Trompeten, Hörner und Posaunen an Nägeln an der Wand aufgehängt waren, die anderen größeren Genossen, wie Celli und Kontrabässe enggedrängt wie es eben ging in den Ecken standen, darunter eine respekteinflößende Basstuba.
Den Bibliotheksdienst versahen zunächst die beiden Vertreter der Oboe, Kollege Gugel und nach dessen Pensionierung Kollege Hausmann. Diese Regelung wurde nicht getroffen, weil Oboisten sozusagen zu Bibliothekaren prädestiniert sind, sondern weil das Fach Oboe bekanntlich eher unterfrequentiert ist. So konnte man das Wochenstundenpensum mit dem Bibliotheksdienst etwas aufpolstern. Ich höre noch heute Herrn Kollegen in der Frühe vor dem Unterricht mit seinen Schrankschlüsseln rasseln, wie weiland Kerkermeister Rocco im Fidelio. Interessanterweise war die Betreuung der Instrumente mit der der Bücher und Noten verkoppelt. Selbstverständlich musste auch da über alles genau Buch geführt werden. Der Verbrauch an Harfenseiten machte auch hier finanziellen Kummer. Der ganze Komplex kam dann bald auf mich zu, da man mit Recht annahm, dem Musikwissenschaftler sei der Umgang mit Büchern und Noten von Berufs wegen zuzutrauen.
Die Frage der Beschaffung von Orchestermaterial stellte ebenfalls ein Problem dar, da dieses damals noch sehr schwer zu beschaffen war. Zum guten Glück besaßen wir in unserem Offizianten Wellinger einen ausgezeichneten Notenschreiber, der mit der vertrackten Schreibweise der transponierenden Instrumente wie mit den Schlüsseln vertraut war. Er schrieb emsig aus den – ebenfalls schwierig zu bekommenden – Partituren die notwendigen Stimmen heraus, womit dieser Engpass recht gut überwunden werden konnte.
Ein besonderes Kapitel waren auch die für den Musikgeschichtsunterricht sehr notwendigen Schallplatten. Zunächst bekam man sie überhaupt noch nicht. Aber da gab es eine interessante Möglichkeit in einem bestimmten Verkaufsshop der Amerikaner in München. Dort wurden nämlich neben allerlei überzähligen Ausrüstungsgegenständen Schallplatten-Alben aus Armeebeständen gegen einen geringen Betrag für das rote Kreuz verscheuert. Ich brachte von diesen schweren 76-er Schellackplatten eine ganze Reihe von München mit. Heute mögen sie Dokumentarwert haben.
Geübt konnte selbstverständlich nur in den wenigen Stunden werden, in den Zimmern, in denen kein Unterricht war. Um das zu können, gehörten schon eingehende Geheimkenntnisse dazu, solche unterrichtsfreien Räume auszukundschaften. Sehr beliebt war, wegen seiner Störfreiheit, zum Üben die Waschküche. Den Stundenplan aufzustellen war geradezu eine Generalstabsarbeit. Natürlich wurden die Behinderungen durch die räumliche Einengung bald fühlbar. So war die Aula, früher einmal ein schöner Wohnraum à la Wintergarten, für die Chor- und Orchesterproben viel zu klein. Auch die Hellhörigkeit mancher Räume untereinander macht sich störend bemerkbar. Das machte die Arbeit gewiss manchmal schwierig, konnte aber die Gesamtleistungen kaum beeinträchtigen. Es gab ja auch stets Aufgaben für die Lehrer und die Studierenden: für Kammermusik, für den Chor, für das Orchester. Einmal waren es Abende für ältere Musik, dann für moderne, zeitgenössische Kompositionen, oder eine Einführung in die Zwölftonmusik und die Wiener Schule, oder gar in den Jazz. Da kam das Goethe-Jahr 1949 mit gemeinsamen Veranstaltungen mit der Universität, da begannen ab 1951 wieder die Mozartfeste, zu denen das Institut seit dieser Zeit alljährlich seine Beiträge stellt. Und nicht zu vergessen das Jubiläum zum 150-jährigen Bestehen des Konservatoriums im Jahre 1954, das mit einem anspruchsvollen und umfangreichen Programm gefeiert wurde: mit neun Veranstaltungen, darunter als Abschluss einen Opernabend im damals noch in der Turnhalle der Pädagogischen Hochschule installierten Städtischen Theater mit der ältesten erhaltenen Oper „Eurydice“ von Jacopo Peri und einer eigens für diesen Anlass vom Kollegen Fr. X. Lehner komponierten Opera piccola „Das geliebte Gespenst“. Dazu erschien eine eigene umfangreiche Festschrift. So war diese Zeit des Interregnums in der Villa Völk alles in allem genommen gekennzeichnet durchausgezeichnete Zusammenarbeit, durch kameradschaftliches Zusammenstehen, trotz – oder, wie ich nachdenklich sagen möchte, wegen aller Einschränkungen. Und – es fehlten auch nicht gute Laune und Humor, wie sich das in den Faschingsfesten in den eigenen Räumen dokumentierte. Es fehlte weder an den mit vieler Arbeit selbstgemachten Dekorationen, dicht an hübschen Kostümen, selbstverständlich nicht an der eigenen feschen Tanzkapelle und an eigenen originellen Einlagen, z.B. die Freischütz-Ouvertüre für 4 Blasinstrumente. Diese Feste hatten in Würzburg von etwas Besonderem bekommen. Dass derlei heute nicht mehr möglich ist, liegt eben an dem neuen Zeitgeist.
Nennen wir diese Zeit eine Pionierzeit. Sie hat sich gelohnt. Ohne ihren Leistungsnachweis – um es bürokratisch auszudrücken – hätte sich der Freistaat Bayern wohl kaum entschlossen, dieses moderne Institut zu bauen, um das uns nicht nur manche Bundesländer, sondern auch ausländische Musikinstitute beneiden. Im Übrigen darf ich bei dieser Gelegenheit mit Vergnügen feststellen, dass eine ganze Reihe ehemaliger Studierender aus eben dieser Zeit dem Lehrkörper angehören.
Es wäre nicht verzeihlich, würde der Chronist nur die hellen Seiten des Almanachs der Reminiszenzen aufschlagen. Nachdenklich sah ich im Jahresbericht 1953/54 eine Gruppenaufnahme von Lehrkörper und Verwaltung, auf der Treppe zu der so schönen Terrasse vor der Villa Völk aufgenommen, an: neun der im Bild Festgehaltenen weilen, um in der Vorstellungswelt jener 1954 aufgeführten „Eurydice“ zu bleiben, im Schattenreich. Vergessen wir nicht ihr Andenken.
Vor einiger Zeit ging ich an der Stätte der eben erzählten Zeit vorbei. Das Haus ist völlig niedergelegt. Nur der Park erinnert an diese Zeit, die, im Spiegel des gewiss nicht zweckmäßigen Hauses, idyllisch, romantisch und – liebenswert war."
Nachbemerkung: Dr. Roland Häfner (1903-1994) hatte 1925-1929 an der Akademie der Tonkunst München Klavier und Komposition (Reifeprüfung 1929) und anschließend Musikwissenschaft an der Universität München studiert, wo er 1935 zum Dr. phil. promoviert wurde. Er kam 1948 als Dozent für Musikgeschichte und Musiktheorie sowie als Leiter des Privatmusiklehrerseminars an das Staatskonservatorium. 1951 wurde er zum Studienprofessor ernannt, 1964 zum Oberstudienrat und 1966 zum Gymnasialprofessor. Ab 1965 war er Stellvertreter von Hanns Reinartz als Direktor. 1969 trat er in den Ruhestand. Seine "Reminiszenzen" sind nicht datiert; sie entstanden vielleicht zu dieser Zeit - auf jeden Fall nach dem Umzug in den Neubau im Herbst 1963 und der Eröffnung des Konzertsaals drei Jahre später, aber vor dem Beginn der Errichtung des Gebäudes des Sportzentrums der Julius-Maximilians-Universität Würzburg auf dem Grundstück der Villa Völk ab 1973.
Christoph Henzel