Interview mit Erika Grohmann

über ihre Studienzeit am Staatskonservatorium der Musik Würzburg

Vorbemerkung: Es handelt sich um die gekürzte Fassung eines am 14. März 2014 geführten Gesprächs. Die Fragen stellte Christoph Henzel.

Erika Grohmann geb. Lier (8. Januar1938) ist in Würzburg geboren. Nach dem Schulabschluss studierte sie von 1952 bis 1959 am Staatskonservatorium für Musik, zuerst Trompete, dann Posaune – sie ist die erste Würzburger Studentin mit einem Blechblasinstrument als Hauptfach! Sie verließ das Konservatorium ohne Abschluss. 1961-1963 war sie mit dem Showorchester Hanny‘s Dutch Sisters auf Tournee. Nach ihrer Heirat 1964 hat sie fünf Jahre lang auf dem Frühjahrs- und Herbstfest auf den Cannstadter Wasen eine 25 Mann starke Blaskapelle geleitet, außerdem hat sie in Würzburg regelmäßig in amerikanischen Clubs gespielt (u.a. E-Bass, Schlagzeug, Posaune, Klavier, Gesang). Danach war sie in anderen Bands aktiv, für drei Jahre auch am Kabarett in Gerbrunn. 10 Jahre lang war sie Organistin auf dem Hauptfriedhof und auf dem Waldfriedhof. Sie hatte jahrelang ein Studio im Musikhaus Wittstadt in der Kaiserstraße und gab bis 1992 Musikunterricht an verschiedenen Schulen in Kist, Lengfeld, Oberaltertheim und Waldbüttelbrunn. Erika Grohmann ist bis heute als Alleinunterhalterin tätig. Sie spielt z. Zt. Schlagzeug und Posaune bei den Laurentius-Musikanten in Heidingsfeld.

CH: Sie haben im Mai 1952 begonnen, am Staatskonservatorium der Musik zu studieren. Da waren Sie erst 14 Jahre alt!

EG: Kurz vorher bin ich auf die Mozart-Schule gekommen, um eine Fremdsprache (Englisch) zu lernen und später das Abitur zu machen. Meine Mutter wünschte sich das. Ganz anders mein Vater, der immer praktisch gedacht hat und die Konzentration auf die Musik gefordert hat: „Die geht wieder auf die Volksschule und macht ihr Studium weiter in Musik“, hat er gesagt. „Das ist wichtiger als noch eine Sprache zu lernen.“ Dass ich Musik studieren würde, war für ihn selbstverständlich, denn meine Eltern stammten aus Musikerfamilien, mein Vater in der 4. Generation, und beide waren als Musiker beruflich tätig. Mein Onkel Hans Lier und mein Bruder Paul waren vor mir schon auf dem Konservatorium gewesen. [1] Jedenfalls setzte sich mein Vater durch und es blieb beim Volksschulabschluss.

Meine Großmutter mütterlicherseits war in Stettin Musikerin gewesen. Sie hatte mit einem Geiger im Kino Stummfilme begleitet und in Tanzlokalen mit 2 bis 3 Kollegen aufgespielt. Sie hat mir erzählt, dass sie einmal bei einer Trauerfeier so übermüdet war, dass sie den Anlass ganz vergaß und den Radetzky-Marsch gespielt hat. Meine Mutter (sie hieß Nelly Krebs) war Stehgeigerin. Sie konnte besser spielen als der Konzertmeister des Würzburger Theaters! Vor meiner Geburt war sie ständig in verschiedenen Formationen unterwegs, unter anderem als Leiterin einer Damenkapelle. In Augsburg hat sie meinen Vater Ludwig Lier kennengelernt, der dort ebenfalls mit seiner Kapelle in Kursälen und Caféhäusern spielte. Da beiden einige Musiker abhanden gekommen waren und sie sich mochten, beschlossen sie sich zusammen zu tun. Dabei war er mit einer anderen Frau verheiratet und hatte schon drei Kinder… Auch in der weiteren Familie gab es Künstler: Der Bruder meines Vaters zum Beispiel war in Frankfurt a. M. Flötist am Theater und beim Rundfunk. Einer der Brüder meiner Mutter wiederum war Sänger am Kölner Opernhaus. Dann gab es noch einen Schauspieler in der Familie, der auch Hobbymaler war – er hat sehr schöne Bilder gemalt. Jedenfalls hat mein Vater, nachdem meine Eltern eine Zeit lang zusammen unterwegs gewesen waren, so 1937 wird das gewesen sein, gemeint, sie müssten sesshaft werden, da es Krieg geben würde. Meine Mutter hat ihm das nicht geglaubt, aber sie haben es so gemacht. Sie hatten erst eine Wohnung in der Nürnberger Straße zur Miete, aber dann hat mein Vater ein Gartenhaus vor dem Pilzgrund ausgebaut, einen Brunnen angelegt und eine Stromleitung besorgt. Für uns Kinder hat er dort ein Schwimmbecken gebaut. Und da er vom Lande kam, hat er sich Hühner, Enten, Hasen und ein paar Schweine zugelegt, außerdem Obst und Gemüse angebaut. Für meine Mutter war das anfangs schwer, denn sie war nur Künstlerin, hatte von Kindheit an nur auf der Bühne gestanden, war immer fein angezogen. Und jetzt musste sie auf einmal Ziegen melken! Wir waren dadurch aber praktisch Selbstversorger und haben nie Not gelitten wie andere. Mein Vater hatte auch noch andere praktische Fähigkeiten: Er war Schuhmacher.

CH: Ist Ihr Vater im Krieg nicht eingezogen worden?

EG: Ja, er musste zum Volkssturm. Kurz vor Kriegsende ist er aber aus seiner Einheit, die sich Richtung Nürnberg befand, geflohen. Er hat seine Uniform weggeworfen, hat sich bei einem Bauern die Arbeitskleider eines Knechts angezogen und ist dann die 60 km zurück nach Würzburg gelaufen. Er hat sich bei uns zuhause versteckt. Irgendwie müssen das die Amerikaner erfahren haben, denn eines Tages kamen sie mit mehreren Fahrzeugen zu uns heruntergefahren und haben mit vorgehaltenen Waffen das Haus durchsucht. Ich hatte solche Angst! Natürlich haben sie ihn gefunden. Aber nicht nur meinen Vater, sondern auch die Musikinstrumente. Damit änderte sich alles: Vom nächsten Tag an machten meine Eltern jeden Tag bei ihnen Musik: zum Frühstück, Mittagessen und abends. Einige Geschwister meines Vaters und Bekannte waren auch beteiligt. Die Amerikaner stellten die Noten ihrer Schlager zur Verfügung. Jeden Tag wurden die Eltern mit Jeeps abgeholt. Und wir bekamen gleich Telefon und hatten genug zu essen! So hat meine Mutter in ihrem Geigenkasten Donuts aus dem Club mitgebracht. Zigaretten haben sie natürlich auch herausgeschmuggelt. Da wir Pferde hatten, sind die Amerikaner auch gerne bei uns zuhause gewesen. Unter ihnen waren ein paar echte Cowboys. Wir sind mit ihnen ausgeritten und sie haben uns das Lasso Werfen und das Schießen beigebracht.

CH: Welche Rolle spielte die Musik bei Ihnen zuhause?

EG: Wir haben, wenn nicht Auftritte anstanden – vor allem im Karneval – oder wenn die Eltern wegen Volksfesten unterwegs waren, jeden Abend Hausmusik gemacht. Die Mutter hat Geige gespielt, der Vater mal Trompete, mal Kontrabass – er konnte praktisch alle Instrumente spielen, hat sich eins genommen und einfach losgespielt. Dafür habe ich ihn bewundert. Aber er hat gemeint, wir müssten das auch können. Dann war noch mein Bruder mit Trompete oder Bass dabei und ich mit dem Klavier, jedenfalls am Anfang. Ab dem 6. Lebensjahr habe ich Unterricht bekommen; mit 8-9 Jahren habe ich dann mitgespielt. Der Klavierunterricht war damals ganz anders als heute: Man hat mit Tonleiterübungen der rechten Hand angefangen; das ging ein paar Stunden so. Und dann kam die linke Hand mit dem Bassschlüssel dran. Hat nicht gerade Spaß gemacht! Daran schlossen sich dann Czerny-Etüden an, die waren im Vergleich dazu schon richtig schön! So habe ich Klavier gelernt. Und als mein Vater bei uns zuhause Noten von Schlagern hingelegt hat, konnte ich die anderen auf dem Klavier begleiten. Später habe ich auch noch Akkordeon gelernt…

CH: Bei wem?

EG: Kamprad hieß mein Lehrer. Den Klavierunterricht hatte ich gleich nach dem Krieg zuerst bei Gunda Hafen, die zu uns nach Hause kam, danach dann bei Frau Weimann in der Bismarckstraße. Ich musste immer 5-6 Kilometer zu ihr in die Stadt laufen! Einmal fing ich zu spielen an, da sagte sie: „So, jetzt läufst du heim und machst erst einmal deine Fingernägel sauber.“ Oh, da war mein Vater sauer, denn sie wurde gut bezahlt. Aber sie war eine sehr gute Lehrerin, sehr lieb, aber auch sehr auf Reinlichkeit bedacht… Meine Mutter hat mir in der Musik direkt nichts beigebracht. Sie hat uns immer gelobt und wenn sie in der Küche zu tun hatte, dann hat sie gesagt: „Ach, komm doch mit, ich mag in der Küche nicht allein sein. Ich stelle dir ein paar Töpfe hin, dann kannst Du ein bisschen Schlagzeug spielen.“ So habe ich von klein an damit angefangen. Andere Mütter wären verrückt geworden. Oder sie hat gesagt: „Kannst gleich bei mir ein bisschen üben. Ich höre das so gerne.“

Schon vor dem Eintritt ins Konservatorium fing ich an Trompete zu lernen. Das kam so: Wir waren ja, wie schon gesagt, praktisch Selbstversorger und hatten deshalb in der Notzeit immer etwas zum Tauschen. Nach dem Krieg kamen dann gelegentlich die Professoren des Staatskonservatoriums, um sich ein Stück Fleisch abzuholen. Die kannten alle meinen Vater gut und waren per Du mit ihm. Wenn sie Schüler hatten, die für das Kurorchester reif waren, aber noch das Zusammenspiel lernen mussten, dann haben sie meinen Vater gebeten, ihnen etwas zu vermitteln. Mein Vater hatte ja seine Verbindungen… Jedenfalls kam auch Prof. Stegmann zu uns nach Hause. Dass er mir ab 1951 Unterricht gab, war der Wunsch meines Vaters, der dabei an die Besetzung in seiner Kapelle dachte. Ein Jahr später konnte ich sogar ohne Aufnahmeprüfung das Studium beginnen. Aber ich bin auf dem Instrument nicht weit gekommen.

CH: Warum?

EG: Irgendwie passte es nicht, vielleicht wegen der Zahnstellung und solchen Dingen. Ich konnte einfach keine Höhe erreichen. Und so habe ich 1953 das Hauptfach gewechselt. Auslöser war Prof. Daum, der mir die Posaune schmackhaft gemacht hat. Er meinte, ich solle mir vorstellen, wie schön es sei, wenn ich allein auf der Bühne in einem glitzernden Kostüm stünde und etwas Jazziges spielen würde – und dann hat er den Bolero von Ravel geblasen. Da war ich sofort überzeugt. Ich habe sehr viel geübt und ein hohes Maß an Virtuosität erreicht. Früher konnte ich das g über dem c‘‘ erreichen…

CH: Welches Nebenfach haben Sie gewählt?

EG: Ich fing mit der Violine an, und zwar ganz von Anfang. Ich wollte nämlich so wie meine Mutter werden, die sehr gut gespielt hat, besser als der Konzertmeister des Stadttheaters. Aber auch die Geige war nicht mein Instrument. Dieses Gekratze! Einmal sprang mein Lehrer, Prof. Karl Bender, auf den Tisch und schrie: „Ich reiß‘ mir noch alle Haare aus, wenn Du so weiterkratzt!“ Ich bin dann in die Kontrabass-Klasse zu Prof. Reuschel gewechselt, denn wir hatten das Instrument zuhause, so dass ich üben konnte. Ich erinnere mich noch an ein Vorspiel im Konservatorium, bei dem ich mit einem anderen Studierenden der Klasse ein Duett gespielt habe. Der Kommilitone war 2 Meter 10 groß, während ich auf einem Hocker stehen musste, um das Flageolett greifen zu können. Prof. Reuschel hatte ich auch im Nebenfach Klavier. Von dem Instrument verstand er aber nichts. Er sagte zu mir: „Warum spielst du denn die Sonatinen so schnell? Die kann man auch ganz langsam spielen.“ Und er hat mir die Allegrosätze im Adagio vorgespielt. Das kam mir sehr merkwürdig vor, weil mir die Frau Weimann doch etwas anderes beigebracht hatte. Nun hat man damals über seinen Lehrer nichts Nachteiliges gesagt, da gehörte direkt Mut dazu. Aber es hat mich furchtbar gestört, alles ganz langsam spielen zu müssen. So habe ich das meinem Vater erzählt. Und da hat er sich gleich darum gekümmert, dass ich zu Karl Wingler kam. Saxophon- und Schlagzeugunterricht hatte ich später auch noch.

CH: Und die Pflichtfächer?

EG: Da ich seit dem 6. Lebensjahr Klavierunterricht hatte, war ich in dem Fach gut. Ich hatte auch einigen Ehrgeiz, denn meine Großmutter kam zweimal im Jahr aus Lübeck zu uns und wir spielten dann immer vierhändig zusammen; da wollte ich sie mit meinen Fortschritten beeindrucken. Die theoretischen Fächer, die Dr. Häfner unterrichtete, habe ich anfangs besucht und dort auch Prüfungen gemacht. Meine Note in Musikgeschichte fiel aber schlecht aus: Ich hatte mich auf Mozarts Werke konzentriert und die Auftraggeber und Widmungsträger auswendig gelernt. Dr. Häfner wollte darüber aber gar nichts wissen und hat mir Fragen zur französischen Musik gestellt – worüber ich nichts wusste. Manchmal konnte ich seinem Unterricht aus Müdigkeit kaum folgen. Und andere Fächer wie Chor habe ich nur hin und wieder besucht.

CH: Wie lief eine Unterrichtsstunde bei Prof. Daum ab?

EG: Manchmal waren wir Schüler zu zweit oder zu dritt im Unterrichtszimmer und mussten Töne aushalten, bestimmt zehn Minuten bis eine Viertelstunde lang. Und zwar Tonleitern über zwei Oktaven, und bei jedem Ton langsam bis zehn zählen, dann den nächsten Ton. Die Atemtechnik entwickelte sich so von alleine. Prof. Daum brauchte nichts weiter zu erklären. Etwas Wichtiges zum Ansatz hatte ich auch bereits von meinem Vater gelernt: Immer wenn es in die Höhe geht und man weiß, man muss noch 3-4 Töne blasen, um, sagen wir, die Quinte darüber zu erreichen, dann muss man versuchen, Luft unter der Lippe unterzubringen, denn dann kriegt man den Ton ganz einfach. Ist natürlich eine Trainingssache. Jedenfalls kamen danach die Schulen dran und die Stücke. Und wenn wir zu dritt waren, also wenn ich mit Martin Göß, ein hübscher Bursche damals, der später der Nachfolger von Prof. Daum wurde, und Udo Reinhardt, der mit der Violine angefangen und dann gewechselt hat, oder Martin Stern zusammen Unterricht hatte, dann haben wir im Trio gespielt. Prof. Daum war dabei ziemlich streng. Einmal hat er uns in den Keller geschickt, vielleicht hatten wir nicht den Ansatz, wie er es sich vorgestellt hat, oder er war schlecht drauf, jedenfalls hat er gesagt: „So jetzt übt ihr hier und ich höre euch später ab!“ Und dann hat er zugesperrt – und uns vergessen. Gottseidank ist der Hausmeister Herr Erlbeck abends, als alle draußen waren, so gegen 10-11 Uhr noch einmal herumgegangen und hat uns gefunden. Das schlimmste für mich war, dass ich nicht heimgekommen bin, und mein Vater war sehr streng! Erst hat er mir das nicht geglaubt, aber dann hat er sich im Konservatorium erkundigt.

CH: Hatten Sie genug Zeit zum Üben?

EG: Generell war es auch mit dem Üben nicht einfach, da ich soviel nebenher machen musste bzw. gemacht habe. Ich musste in der Gastwirtschaft, die meine Eltern nach dem Krieg betrieben, aushelfen, außerdem häufig bis weit in die Nacht hinein in ihrer Kapelle mitspielen, vor allem Akkordeon, aber auch Schlagzeug. Mein Vater hat nach dem Krieg lange Jahre auch die Musik beim Kiliani-Fest gestaltet. Dann hatten meine Eltern einen Getränkehandel; da musste ich die Ware ausfahren. Mein Vater hat immer ein Auto gehabt und ich bin damit schon mit 14 Jahren für das Geschäft herumgefahren – damals waren ja nur wenige Fahrzeuge auf der Straße. Mit 16 Jahren habe ich dann den Führerschein gemacht. Mein Vater war auch noch ein großer Tierliebhaber; für uns heranwachsende Mädchen hat er Reitpferde gekauft, auf denen wir von einem Reitlehrer richtig trainiert wurden. Wir sind Turniere geritten und haben fast immer die ersten Preise gewonnen. Ich habe davon noch Zeitungsberichte. Ja, und dann war da noch das Ballett. Meine Mutter hat dafür gesorgt, dass wir Geschwister Schauspiel-, Gesangs- und Ballettunterricht bekamen, alles am Stadttheater Würzburg. Sie sagte: „Auf der Bühne muss man sich frei bewegen können, und das erreicht man durch das Ballett.“ Sie selber hatte das auch so erlebt. Das Tanzen wurde nun meine große Leidenschaft. Unterricht hatte ich bei der Ballettmeisterin des Stadttheaters. Ich war wirklich gut, weil ich so viel geübt habe, und durfte dort sogar einmal als Solistin aushelfen. Sie wünschte sich, dass ich professionelle Tänzerin werde. Davon wollte aber mein Vater nichts wissen. Als er erfuhr, dass ich wegen des Balletts zeitweise nicht zum Trompetenunterricht gegangen bin, ist er wütend geworden und hat das Empfehlungsschreiben des Deutschen Bühnenvereins zerrissen. Für ihn kam nur der Musikberuf für mich in Frage.

Es war wirklich alles zusammen zu viel. Das Studium war unter diesen Umständen kaum zu schaffen. Meine Lehrer waren zwar sehr nett zu mir, aber doch auch nicht zufrieden. Einmal kam Prof. Reinartz, der Direktor, zu meinem Vater, um sich bei ihm über meinen mangelnden Fleiß zu beschweren. Als er sah, in welcher Weise ich in das Geschäft meiner Eltern eingespannt war, hat er nichts mehr gesagt.

CH: Einen Studienabschluss haben Sie nicht gemacht?

EG: Nein, die Vorbereitungen begannen, aber dann bin ich 1959 von heute auf morgen von zuhause weggelaufen. Ich wollte nämlich heiraten, aber mein Vater wollte mir kein Geld geben, obwohl ich so hart für ihn gearbeitet habe. Sechs studierende Kinder waren eben teuer! Da bin ich ausgerissen und habe mich mit viel Glück eine Zeit lang mit Gelegenheitsjobs durchschlagen können. 1960 bin ich nach Würzburg zurückgekehrt und habe auch wieder in der Kapelle meines Vaters gespielt, nun aber für Geld. Es war so viel, dass ich mir einen VW Käfer kaufen konnte. Und dann habe ich mich auf eine Stelle als Schlagzeugerin in einem Trio in Bad Mergentheim beworben. Dort wiederum habe ich erfahren, dass die Hanny‘s Dutch Sisters, ein ausschließlich mit Frauen aus allen möglichen Ländern besetztes Show-Orchester, jemand wie mich für ihre Tourneen mit Revuen und Musicals gebrauchen könnten. Sie suchten eine Persönlichkeit, die nicht nur Posaune spielen, sondern auch tanzen und schauspielern konnte. Ich konnte das und wurde sogleich engagiert. Ich konnte es mir sogar erlauben, ein Mehrfaches der üblichen Gage zu verlangen. So kam es, dass ich von April 1961 bis Ende 1963 unentwegt unterwegs war: Zürich, Bern, Paris, Vichy… In Bern, wo wir im Kursaal aufgetreten sind, ist 1961 etwas Lustiges passiert. Eines Mittags begegnete mir Professor Bender auf der Straße. Er sagte etwas von oben herab: „Hallo, Fräulein Lier, Sie wollten doch Posaune lernen? Gehen Sie mal in den Kursaal, da spielt ein junges Fräulein Posaune – so wie die, das werden Sie nie erreichen!“ Darauf ich: „Danke, Herr Professor, für das Kompliment, denn die Posaunistin bin ich.“ Der hat geschaut! Die lokale Presse berichtete immer über uns, besonders über mich, da ich mit meinen akrobatisch-tänzerischen Nummern, die ich teilweise Posaune blasend absolvierte, auf der Bühne ganz vorne stand.

CH: Das klingt nach einem mondänen Leben als Star.

EG: Es war schon ein bisschen mondän, denn wir haben immer sehr gut gewohnt und gegessen und sahen chic aus. Vor allem aber war es Schwerstarbeit. Früh das Training und die Proben, abends dann bis in die Nacht hinein die Auftritte, die rasche Kostümwechsel und körperliche Höchstleistungen verlangten. Wir hatten selten einmal einen freien Tag und waren viel auf Reisen, so dass wir manchmal zwei Tage nicht zum Schlafen kamen. Und dann durften wir nicht mit Leuten aus dem Publikum sprechen. Blumen und Pralinen durften wir zwar entgegennehmen, sie wurden aber sogleich entsorgt – wahrscheinlich um mögliche persönliche Beziehungen oder Abwerbungsversuche zu unterbinden. Alkohol war strikt verboten! In der Öffentlichkeit mussten wir uns chic zurechtgemacht und gesittet zeigen. Tatsächlich war die Presse immer in der Nähe, so dass man sich nicht mehr normal verhalten konnte. Das war auf die Dauer sehr anstrengend. Aber ich habe auch in jeder Stadt von einem Lehrer von der Musikschule oder vom Theater Posaunenunterricht bekommen. Das wurde vom Orchester bezahlt, ebenso der Tanzlehrer vom jeweiligen Stadttheater. Der hat mich trainiert, weil ich ja Akrobatiktänze gemacht habe, und hat mit mir Tänze einstudiert. Ich muss sagen, dass ich sehr viel auf Reisen gelernt habe, durch den Beruf, in der Praxis. In Luzern hat man mir sogar eine Stelle im Stadttheater als 1. Posaunist angeboten! Aber im Orchestergraben sitzen? Ich wollte lieber auf der Bühne sein. Außerdem habe ich damals viel Geld verdient und hatte auch etwas mehr Freiheiten als die anderen. Ich bin immer mit meinem eigenen Auto gereist und mir konnte auch nicht mit der Kündigung gedroht werden. Ich habe schließlich von mir aus gekündigt, weil ich endlich meinen Verlobten, den ich die Jahre hindurch immer nur kurz zwischendurch sehen konnte, heiraten wollte. 1964 war es endlich soweit.

CH: Waren Sie nach der Eheschließung weiter als Musikerin tätig?

EG: Ja. Für den größten Teil des Familieneinkommens habe ich auf diese Weise gesorgt. Das ging, da wir keine Kinder bekamen. Mein Mann, der ein kleines Lottogeschäft besaß, verdiente nicht viel. Er gewöhnte sich daran, dass ich immer wieder mehrwöchige Engagements einging und mit verschiedenen Ensembles unterwegs war. Im Wintersemester 1966/67 bin ich sogar wieder an das Staatskonservatorium zurückgekehrt, weil ich endlich meinen Studienabschluss machen wollte. Aber wieder konnte ich wegen meiner Berufstätigkeit kaum Zeit für das Studium aufbringen. So habe ich mich wieder abgemeldet. 1978 aber erhielt ich auf meine Anfrage hin die schriftliche Bestätigung des Ministeriums, dass ich aufgrund meiner Studienleistungen als staatlich geprüfte Privatmusikerzieherin tätig sein könne. Den Anstoß dazu hat Frau Kliebert vom Tonkünstlerverband gegeben. Die hat mir gesagt: „Eine staatliche Anerkennung, das klingt doch nach etwas.“ Da habe ich mir überlegt, dass sich vielleicht mein Vater darüber freut und habe den Antrag gestellt. Leider ist das Schreiben dann erst vier Wochen nach seinem Tod angekommen. Ich habe das Papier dann weggelegt. Es hat nie jemand danach gefragt, auch nicht als ich an Schulen Kindergruppen unterrichtet habe. Erst jetzt, im vergangenen Jahr brauchte ich es, als ein Mädchen von 11-12 Jahren von einem musischen Gymnasium unbedingt bei mir Saxophon-Unterricht nehmen wollte, weil sie mit ihrem Lehrer nicht klar kam. Und da hieß es, der Unterricht wird nur anerkannt, wenn die staatliche Anerkennung vorliegt.

Eigentlich wollte ich keinen Unterricht mehr geben, aber ich habe es schließlich doch getan – und es hat mir gut getan, als sie lauter gute Noten bekam.

Redaktion: Marc Deml und Christoph Henzel

Fußnote

[1] Hans Lier (geb. 1921), Hauptfach Flöte, 1934-1939 und 1950/51 sowie Paul Lier (geb. 1928), Hauptfach Trompete, 1947-1951. Später studierten zwei Schwestern am Staatskonservatorium: Rosemarie Lier (geb. 1939), Hauptfach Klarinette, 1953-1960 und Heidi Lier (geb. 1944), Hauptfach Saxophon, 1959-1967.